Der hessische Tatort „Murot und das 1000-jährige Reich“, der am 20. Oktober 2024 erstmalig ausgestrahlt wird, wartet mit einem ungewöhnlichen Schlussakkord auf. Wir interpretieren das Finale im Flugzeug.
ACHTUNG: ES FOLGEN SPOILER!
Der Mörder im Tatort Murot und das 1000-jährige Reich wird diesmal am Ende des Krimis in einem anderen Sinne „überführt“: Der mittlerweile rund 100-jährige Hagen von Strelow (Ralf Harster), der 1944 in seiner Funktion als junger Adjutant des von Ulrich Tukur gespielten Sonderermittlers Rother mehrere Kriegsverbrechen begangen hatte, sitzt nämlich in einem Flugzeug, das in Argentinien gestartet und auf dem Flughafen in Frankfurt gelandet ist. In Deutschland soll der nach Südamerika geflohene Alt-Nazi nun für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden – Mord verjährt ja bekanntlich nicht.
Während die Hintergründe der Überführung von Buenos Aires nach „Mainhattan“ im Film nur angedeutet werden, hatte der Hessische Rundfunk sie im Vorfeld der Erstausstrahlung des Krimis in seiner Inhaltsangabe bereits klar kommuniziert. Darin heißt es: „Hagen von Strelow befindet sich auf dem Flug von Südamerika nach Frankfurt am Main. Er ist ein gesuchter Kriegsverbrecher, dem in Deutschland der (späte) Prozess gemacht werden soll. Vor Ort erwarten ihn Kommissar Murot (Ulrich Tukur) und seine Assistentin Wächter (Barbara Philipp). Murot war ihm schon vor 30 Jahren auf der Spur, aber Hagen von Strelow konnte im letzten Moment entkommen.“
Wie sich dieses „Entkommen“ damals konkret zutrug, spart der Film aus – thematisiert werden stattdessen die schrecklichen Ereignisse im Jahr 1944 und die Überführung im Jahr 2024, nicht aber Hagen von Strelows zwischenzeitliche Flucht vor Murot. Außerdem wird erwähnt, dass inzwischen alle Zeitzeugen der damaligen Verbrechen verstorben sind.
In einem hessischen Dorf exekutierte der glühende Nazi Hagen von Strelow (Ludwig Simon) 1944 nicht nur einen geistig gehandicapten Mann (Bastian Trost), sondern misshandelte auch den Reichspostbeamten Karl (Gerd Lohmeyer), den er später hinterrücks erschoss – sehr zum Ärger des kriegsmüden Sonderermittlers Rother (Ulrich Tukur), der nichts gegen seinen jungen Adjutanten ausrichten konnte und selbst noch eine Kugel von ihm in den Kopf erhielt. Von Strelow hatte sich nach heftigen Differenzen mit seinem Vorgesetzten bis zum Eintreffen der Gestapo in dem Dorf, in dem große Teile des historischen Krimis spielen, volle Befehlsgewalt gesichert.
Das geschieht am Ende des Films
Direkt nach der Landung im Jahr 2024 und dem Zeitsprung über 80 (!) Jahre sind zahlreiche Schauspielerinnen und Schauspieler in neuen Rollen im Flugzeug zu sehen, die im Handlungsstrang aus dem Jahr 1944 wichtige Rolle spielen. Darunter etwa Cornelius Obonya, der den Professor Bernhard Tabler im Jahr 1944 und den Piloten des Flugzeugs im Jahr 2024 spielt. Oder André Meyer, der 1944 einen Schmied mimt und nun das Cover eines Duty-Free-Magazins ziert. Marius Ahrendt wiederum, der 1944 den in Ketten gelegten deutschen Soldaten Balthasar Herold verkörpert, spielt 2024 einen argentinischen Polizeibeamten, der von Strelow auf dem Flug begleitet hat.
Und auch der vom jungen Hagen von Strelow getötete Postbeamte Karl – oder besser gesagt: Schauspieler Gerd Lohmeyer – ist an Bord zu sehen und steigt aus dem Flugzeug aus, ehe der geflohene Kriegsverbrecher schließlich auf seinen alten Widersacher trifft: Felix Murot, der ihn über 20 Jahre zuvor nicht stellen konnte und nun gemeinsam mit seiner Assistentin Wächter in Frankfurt in Empfang nimmt.
„Buenos dias, Herr von Strelow – so sieht man sich wieder.“
So interpretieren wir das surreale Finale
Auf dem langen Flug von Buenos Aires nach Frankfurt am Main dürfte Hagen von Strelow viel Zeit gehabt haben, um sich seine 80 Jahre zurückliegenden Kriegsverbrechen noch einmal vor Augen zu führen und durch den Kopf gehen zu lassen. Ob er sie über die Jahre verdrängt hatte, bleibt Spekulation – aber spätestens, als die Maschine in Deutschland landet und Felix Murot das Flugzeug betritt, wird dem rund 100-jährigen Kriegsverbrecher klar: Nun werde ich doch noch für meine Taten zur Rechenschaft gezogen. Dass sowohl der längst verstorbene Sonderermittler Rother als auch LKA-Kommissar Murot von Ulrich Tukur gespielt werden, verstärkt diese Erkenntnis für das TV-Publikum zusätzlich.
Im Allgemeinen heißt es, kurz vor dem eigenen Tod würden noch einmal das ganze Leben und wichtige Schlüsselerlebnisse vor dem inneren Auge vorbeiziehen – und eine solche Erfahrung macht unserer Interpretation nach in diesem Moment auch Hagen von Strelow, der sich seinem Prozess in Deutschland Jahrzehnte lang entziehen konnte und in Argentinien in Sicherheit gewähnt hatte. Die Passagiere, die nun mit ihm an Bord sind, mögen in Wahrheit ganz anders ausschauen als jene Charaktere, die er im Jahr 1944 drangsalierte und tötete. Doch der alte Mann bildet sich ein, seinen Opfern von einst noch einmal wahrhaftig zu begegnen, ehe ihn in seinem Heimatland ein spätes Urteil erwartet.
Eindeutig belegen lässt sich diese Interpretation freilich nicht – und wie es nach der Landung in Frankfurt weitergeht, bleibt ebenfalls offen. Der Tatort Murot und das 1000-jährige Reich endet mit einer Nahaufnahme von Hagen von Strelow, der auf seinem Fensterplatz eine entsetzte Grimasse zieht, als er den Wiesbadener LKA-Kommissar (und in ihm zugleich seinen alten Widersacher Rother) erblickt. Direkt danach folgt der Fadenkreuz-Abspann.
Eine Fortsetzung des Krimis ist seitens des Hessischen Rundfunks nicht geplant. Vielmehr ist der nächste Tatort mit Felix Murot bereits abgedreht und erzählt eine ganz andere Geschichte. Mehr dazu erfährst du in unserem Drehspiegel.
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