Folge: 45 | 10. November 1974 | Sender: NDR | Regie: Jörg-Michael Baldenius
Niedersächsisch.
Denn die 45. Tatort-Folge ist nicht nur die erste aus Hannover, sondern zugleich die erste, die in Niedersachsen spielt – nur Rheinland-Pfalz erlebte in den damaligen westdeutschen Bundesländern eine noch spätere Tatort-Premiere.
Dem Proporz der „Drei-Länder-Anstalt“ NDR geschuldet, führt die Redaktion um Rüdiger Humpert, der gemeinsam mit dem renommierten Dramaturgen Hans Drawe auch das Drehbuch schrieb, den neuen Ermittler ein: Kommissar Heinz Brammer (Knut Hinz) übernimmt die Leitung des Ersten Kommissariats in der Landeshauptstadt. Bei einem Konzert im „Onkel Pö“ verabschiedet kein Geringerer als Panikrocker Udo Lindenberg, der sich in diesem Tatort selbst spielt, seinen Kumpel nach Niedersachsen, wo der Neue skeptisch begrüßt wird. Schlapphut und Gitarre sind Attribute, die in der sehr provinziell gezeichneten Stadt an der Leine nicht goutiert werden.
Und schon am ersten Abend, als die Mordkommission Brammers Einstand mit Unmengen von Alkohol feiert, müssen die Kriminalen zu einem Tatort: Die Witwe Anna Schmidt wurde stranguliert und es stellt sich die Frage, ob Motive und Täter im Milieu ihrer vielen Lokalbesuche oder im familiären Hintergrund zu finden sind. Das Übermaß an Verdächtigen macht es der Polizei (und den Zuschauern) schwer, den Überblick zu behalten: Unübersichtlich wird in Brammers Premierenfolge eine große Anzahl möglicher Täter ausgebreitet und dabei niemals auf den Verweis auf das „unstete“ Leben der Verstorbenen verzichtet.
Da ist ihr deutlich jüngerer Liebhaber, der Bierfahrer Hermann Kolltasch (Peter Kuiper, Freiwild). Dem Herrenausstatter Höfer (Karl Michael Vogler, Schattenboxen) hatte die Ermordete Hilfe in Geldschwierigkeiten angeboten, ihr Stiefsohn Horst (Til Erwig, Ein ganz gewöhnlicher Mord) hatte ihr mit Mord gedroht. Und schließlich könnte auch eine Kneipenbekanntschaft wie der Binnenschiffer Ossi Lörring (Dieter Prochnow, AE612 ohne Landeerlaubnis) oder der Hilfsarbeiter Peter Jacob (Gottfried Kramer) als Täter in Betracht kommen.
Innerhalb kurzer Zeit ist Kneipenbekanntschaft damit der zweite Tatort, der im Kosmos der Binnenschiffer angesiedelt ist: Während sich Auf offener Straße allerdings auf den Täter und sein „Nicht-Motiv“ fokussiert, versucht der NDR in seinem dreieinhalb Jahre später erstgesendeten Beitrag zu viele Themen unterzubringen. Nicht erstaunlich daher, dass vor allem Nebensächlichkeiten im Gedächtnis bleiben – der Auftritt des Panikrockers etwa, ein toter Wellensittich und der Kommissar mit Ledermantel, der Brammers Kollegen Henkel (Günther Heising, Nachtfrost) bei der Erstbegegnung sichtlich irritiert.
HENKEL:Sie spielen Gitarre?BRAMMER:
Ja, aber nicht im Dienst.
Um größtmögliche Authentizität bemüht, stellen die Filmemacher um Regisseur Jörg-Michael Baldenius, der bis zu diesem Film vor allem als Kameramann mit Wolfgang Petersen reüssierte hatte, die kriminalistische Kleinarbeit dar. Wesentlich dazu bei tragen die Bilder und die Kameraführung, mit der Frank A. Banuscher die Inszenierung auflöst. Als leitender Kameramann des NDR ist Kneipenbekanntschaft nach Richter in Weiß bereits sein zweiter Ausflug in die Krimireihe.
So realistisch das soziale Milieu mit den deutschen Moralvorstellungen der 70er Jahre und die Illustration der mühsamen Ermittlungen den Krimi prägen, so sehr verheben sich die Filmemacher allerdings daran, den neuen Kommissar in seiner Premierenfolge einzuführen. Die Kriminalgeschichte bleibt im besten Sinne unspektakulär; ruhige Befragungen bringen Handlung und Aufklärung oft nur Millimeter voran. Nach einem starken Beginn entwickelt sich die 45. Tatort-Folge zu einem ruhigen, tempoarmen Krimi, der nur noch durch einige inszenatorische Feinheiten besticht – etwa das Durchbrechen der „Vierten Wand“, das den Aussagen einiger Augenzeugen einen dokumentarischen Charakter verleiht.
Eine ganze Heerschar von etablierten Schauspielern wird Knut Hinz bei seinem Debüt auch in den Nebenrollen zur Seite gestellt: Neben einem sympathischen Gastauftritt des Kieler Tatort-Kollegen Finke (Klaus Schwarzkopf, erster Auftritt 1971 in Blechschaden) handelt es sich dabei im Wesentlichen um Hamburger Mimen, die auch aus anderen NDR-Tatorten bekannt sind: Hans Fitze, Gerhard Hartig, Gustav Burmeester, Günter Kütemeyer und Ferdinand Dux. Zu ihrem einzigen Tatort-Engagement kommt auch Hanni Vanhaiden (bekannt aus der Kindersendung Spaß muss sein mit Walrossdame Antje).
Für den Versuch, einen neuen Tatort-Spielort in Niedersachsen zu etablieren, bleibt eine solche Besetzung allerdings kontraproduktiv.
Bewertung: 6/10
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