Folge 279
29. August 1993
Sender: BR
Regie: Josef Rödl
Drehbuch: Josef Rödl
So war der Tatort:
Un(t)ergründlich.
Denn was einem Sprichwort zufolge gemeinhin die Wege des Herrn charakterisiert, ist auch für den sechsten Einsatz der Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) sehr zutreffend. Dabei ist das bis in hohe politische Kreise reichende Geflecht aus Spekulationsgeschäften, geheimen Absprachen und Bestechung, das die Ermittler entwirren müssen, nicht das einzig komplexe, was diesen Tatort zu einem im wahrsten Sinne des Wortes tiefgründigen macht.
Nimmt man den trashig-effekthascherischen Prolog aus, der uns einleitend zu Zeugen des Mordes am Gärtnereibetreiber Anton Berger (Hans Brenner, Ein ganz gewöhnlicher Mord) macht, wirkt die 279. Tatort-Folge erfreulich geerdet. Zwar wissen wir von Beginn an um die Täterschaft und genießen gegenüber den Kommissaren einen Wissensvorsprung, doch die Geschichte von Regisseur und Drehbuchautor Josef Rödl (Schattenwelt) büßt dadurch keineswegs an Spannung ein. Vielmehr wird wie in einem kriminalistischen Puzzle nach und nach Teil für Teil ergänzt und das Gesamtbild verändert sich dabei stetig.
Rödls Entscheidung, zwei Handlungsstränge parallel zu erzählen, erweist sich als Gewinn: Der erzählerische Reiz ergibt sich auch daraus, dass sie ganz unterschiedliche Lebenswelten beleuchten. Da ist zum einen die Unterwelt, repräsentiert durch das schmuddelig anmutende Eros-Center, in dem die Prostituierte Maria Zell (Veronica Ferres, Königinnen) ein wenig erfüllendes Dasein fristet. Mit ihr wollte das Opfer in Amerika ein neues Leben beginnen, doch der humorlose Zuhälter Sandler (Andreas Giebel, Die letzte Wiesn), den der aufbrausende Batic für ein länger zurückliegendes Verbrechen gern einbuchten würde, hat sie fest im Griff.
Auch die resigniert-fürsorgliche Anna Bürgl (herausragend: Ruth Drexel, Tod aus Afrika), die ebenfalls im Bordell arbeitet („Aber net so, wie Sie meinen!“), den Kommissaren in einer großartigen Sequenz den verbalen Stinkefinger zeigt und im Hintergrund die Fäden zieht, will am Status Quo nichts ändern. Während sich Batic gewohnt impulsiv durchs Rotlichtmilieu schlägt, ermittelt Leitmayr in gesellschaftlich höheren Sphären und tritt – nicht ohne sichtbare Genugtuung – der Münchner Oberschicht in Person des ausgefuchsten Bauunternehmers Josef Reisinger (Friedrich von Thun, Absolute Diskretion) auf die Füße.
Reisinger ist als Prototyp des bayrischen Amigo nicht nur Teilhaber der Gärtnerei des Opfers und Inhaber einer Tankstelle, sondern auch Strippenzieher der eingangs erwähnten Spekulationsgeschäfte um Baugrundstücke zur Errichtung einer Mülldeponie. Seinen mafiös anmutenden Strukturen verdankt der Krimi im Übrigen seinen Namen: Alles Palermo eben. Reisinger ist ein mächtiger und schlagfertiger Gegner, der sein Gegenüber aber nicht unterschätzt:
Die zentrale Figur des Krimis ist aber Reisingers rechte Hand Karl „Kalle“ Schweitzer (Jacques Breuer, Der Mord danach), der bewundernd zu seinem Chef aufblickt und die Drecksarbeit für ihn erledigt – immer in der Hoffnung, irgendwann einmal selbst oben mitmischen zu können. Bei ihm laufen die Fäden am Ende zusammen. Doch wie das alles zusammenhängt und warum die Dinge so geschehen, wie sie geschehen, ist für die Kommissare und das Publikum lange Zeit nicht zu durchdringen.
Gleiches gilt für das Münchner U-Bahnsystem, das – passend zur Geschichte um Vernetzung und Verstrickung – bewusst als Setting ausgewählt wurde. Die durch den Untergrund rauschenden Waggons dienen als Ort für konspirative Treffen und werden auf der Zielgeraden zum Schauplatz einer fiebrigen, fast zehnminütigen (!) Verfolgungsjagd, die man in der langen Tatort-Historie selten so gesehen hat. Für das Jahr 1993 ein bemerkenswert innovativer Ansatz, der in seiner Herangehensweise an den ebenfalls an der Isar angesiedelten, späteren Tatort-Meilenstein Unklare Lage erinnert.
Ein großes Plus sind zudem die Figuren, die erfreulich differenziert gezeichnet und schwer zu durchschauen sind. Einzige Ausnahme bildet das Spiel von Veronica Ferres, der die Darstellung der äußerlich starken und innerlich trauernden Geliebten gänzlich misslingt, weil sie oft viel zu dick aufträgt. Exemplarisch dafür steht die Sequenz, in der sie sich ihrem „Retter“ Batic im Auto erst erfolglos an den Hals wirft, um kurz darauf demonstrativ beleidigt abzuziehen.
Dennoch ist in Alles Palermo nicht alles Paletti: Assistent Carlo Menzinger (Michael Fitz) etwa kommt diesmal nicht über den Status als Stichwortgeber hinaus. Auch die aufdringlich im Bild platzierte Schleichwerbung für Dextro-Energen und Kinder-Schokolade am Verkaufstresen einer Tankstelle mutet aus heutiger Sicht sehr befremdlich an. Das sind aber nur kleinere Wermutstropfen in einem Tatort, der mit reichlich Lokalkolorit punktet und zweifellos zu den besten Krimis der frühen Batic-und-Leitmayr-Phase zählt.
Bewertung: 7/10
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