Folge: 608 | 2. Oktober 2005 | Sender: NDR | Regie: Claudia Garde
Bild: NDR/Marion von der Mehden |
So war der Tatort:
Unterirdisch – aber zum Glück nur im räumlichen, und nicht etwa im qualitativen Sinne.
Drehbuchautor Sascha Arango sitzt nach dem herausragenden Kopper-Debüt Der kalte Tod und anschließender neunjähriger Tatort-Abstinenz zum zweiten Mal für die Krimireihe am Ruder und verfrachtet große Teile des Geschehens unter die Erde: Die Einleitung und der komplette Showdown von Borowski in der Unterwelt spielen – der nicht von ungefähr mythologisch angehauchte Krimititel deutet es bereits an – in der finster-feuchten Kieler Kanalisation.
Dort haust ein Serien- und Säurekiller, der im Dunkeln von Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und Kriminalkommissar Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh) gefunden werden will. So zumindest liest sich die Ausgangslage in der letzten halben Stunde des Krimis. Was aber bis zu diesem Zeitpunkt passiert, ist für Tatort-Verhältnisse mehr als außergewöhnlich.
Arango, der seinen Mut zu ausgefallenen Geschichten noch viele weitere Male unter Beweis stellt (unter anderem bei Borowski und das Mädchen im Moor und bei Borowski und der Engel), testet die Grenzen des Sonntagabendkrimis nach Herzenslust aus, pfeift auf viele Tatort-Konventionen und nimmt die Antwort auf die Täterfrage – eines seiner Markenzeichen – einleitend vorweg. Oder vielleicht doch nicht?
Der undurchsichtige Pfarrer Benz (Uwe Bohm, Schwindelfrei), der in der Kanalisation ein mit Säure und Leichenteilen gefülltes Fass zerschlägt und dabei zusieht, wie die bestialisch stinkende Brühe in den Nord-Ostsee-Kanal läuft, taucht auf dem Polizeipräsidium auf und bekennt sich aller Taten schuldig. Aber ist er auch der gesuchte Mörder? Und können ihm die Taten nachgewiesen werden?
Es bleiben Zweifel. Nicht nur, weil Pfarrer Benz sich an verdächtig viele Details der Gräueltaten nicht erinnern kann, sondern auch, weil das ja irgendwie zu einfach wäre. Und Arango wäre nicht Arango, wenn er dem Zuschauer nicht früher oder später den Boden unter den Füßen wegziehen würde – und das tut er im 608. Tatort gleich mehrfach.
Spätestens, als sich Hermann Winter (Bernhard Schütz, Feuerteufel), der Vater der von Benz angeblich verschleppten und ermordeten Anhalterin Doreen (Nadja Bobyleva, Kaltblütig), zu einer blutigen Kurzschlussreaktion hinreißen lässt, steht der Krimi auf dem Kopf: Der vermeintliche Täter wird zum Opfer, das indirekte Opfer zum Täter – und der Zuschauer Zeuge dessen, wie sich die Ereignisse auf der Zielgeraden überschlagen. Das ist Tatort-Unterhaltung auf höchstem Niveau.
Auch die knackigen Dialoge zwischen Borowski („Ich dachte, ich kenne schon alles nach 20 Jahren Wühlerei im Dreck.“) und Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert), die sich diesmal unter anderem in einem Beichtstuhl unterhalten, bersten vor unterschwelligen Komplimenten und subtilem Wortwitz, der dem Kieler Krimi wieder ausgezeichnet zu Gesicht steht und den eher müden Auftritt von Sidekick Zainalow mühelos wettmacht.
Dass Borowski in der Unterwelt die Höchstwertung auf der Bewertungsskala knapp verpasst, liegt an der relativ schleppenden ersten Filmhälfte und der guten, aber eben nicht sehr guten Regie von Claudia Garde (Frühstück für immer), die mit Arangos erstklassigem Drehbuch nicht ganz mithalten kann: Gerade angesichts des prickelnden Katz- und Maus-Spiels zwischen Pfarrer und Kommissar und des dreckig-düsteren Settings in der Kanalisation wäre stimmungstechnisch mehr drin gewesen. Klaustrophobische Atmosphäre will bei den Gummistiefeleien durch die unterirdischen Wasserwege nicht immer aufkommen.
Dennoch: Borowski in der Unterwelt ist der erste und nicht nur visuell herausragende Kieler Tatort mit Borowski und Jung und die Antwort auf die Täterfrage eine der gewagtesten in der Geschichte der Krimireihe.
Bewertung: 9/10
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