Bild: BR/TV60/Julia von Vietinghoff

Der oide Depp

Folge 696

27. April 2008

Sender: BR

Regie: Michael Gutmann

Drehbuch: Alexander Adolph

So war der Tatort:

Schwarz-weiß – und das sogar ein gefühltes Krimidrittel lang.

Regisseur Michael Gutmann montiert die Ermittlungen von Hauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) parallel zur Vorgeschichte eines in bester Zur Sache, Schätzchen-Manier konsequent in Schwarz-Weiß-Bildern erzählten, ungeklärten Mordfalls im hippen München den 60er Jahre, der den wenig begeisterten Kommissaren nun von ihrem Vorgesetzten aufs Auge gedrückt wird.

Nicht von ungefähr erinnert das Opfer, die Animierdame Gertrude „Gina“ Exner (Muriel Roth), entfernt an die junge Uschi Glas, die sich in dem in München-Schwabing spielenden Kultfilm ungewohnt freizügig gab und damit am Vorabend der 68er-Bewegung für einen bundesweiten Aufschrei sorgte.

In Der oide Depp ist aber nicht etwa eine dunkelhaarige Schönheit, sondern ein ergrauter Kriminaloberkommissar der Star: Batic und Leitmayr werden beim Aufrollen des Mordfalls, in den durch den Fund eines Messers im Auto des Hawaii-Hemden tragenden USA-Rückkehrers und Puffbetreibers Robert ‚Roy‘ Esslinger (Jörg Hube, Das Mädchen auf der Treppe) neues Leben kommt, nämlich vom tatterigen Bernhard „Opa“ Sirsch (Fred Stillkrauth, Um jeden Preis) unterstützt – und der drückt dem Krimi eindrucksvoll seinen Stempel auf.

Sirsch, der oft unverständlich vor sich hinbrummelt und das ungeübte Ohr mit seinem bayrischen Dialekt auf eine harte Probe stellt, verfügt über keinerlei EDV-Kenntnisse, leert eine Halbliterflasche Bier nach der nächsten und verursacht für die genervten Ermittler im Präsidium mehr Arbeit als er bewältigt. Doch spätestens nach einer Stunde wird aber klar, dass es keineswegs Sirsch ist, dem es im 696. Tatort an Durchblick mangelt: Es sind die Kommissare Batic und Leitmayr, die von dem cleveren Routinier nach allen Regeln der Kunst vorgeführt werden.

Und mit ihnen der Zuschauer: In der letzten halben Stunde, die vorwiegend in der sündhaft teuren Esslinger-Villa spielen, überschlagen sich die Ereignisse, jagt eine verblüffende Wendung die nächste, wird der formidable Schlussakkord geschickt vorbereitet und mit schonungsloser Konsequenz zu Ende gebracht.

Spätestens hier veredelt Filmemacher Michael Gutmann, der nach dem Osnabrück-Tatort Das namenlose Mädchen und der Hamburger Folge Der König kehrt zurück zum dritten Mal für die Krimireihe auf dem Regiestuhl Platz nimmt, das hochklassige Skript von Alexander Adolph, der auch die Drehbücher zur herausragenden Münchner Episode Im freien Fall und zum Batu-Meilenstein Der Weg ins Paradies schrieb, mit einer brillanten, formvollendeten Inszenierung, die die Ereignisse im München der 60er Jahre geschickt mit dem dramatischen Showdown im Hier und Jetzt verknüpfen.

Auch Der oide Depp, der mit Kein Entkommen-Darsteller Christoph Bach und Thomas Jung bis in die Nebenrollen stark besetzt ist, verdient sich damit das Prädikat Meilenstein und ragt sogar aus den zahlreichen hochkarätigen Tatorten aus der bayrischen Landeshauptstadt noch heraus. Denn er ist alles andere als ein gewöhnlicher Tatort und kommt nicht nur ästhetisch, sondern auch dramaturgisch äußerst ausgefallen daher.

Bewertung: 10/10


Kommentare

3 Antworten zu „Der oide Depp“

  1. Avatar von Holger Schoppmeier
    Holger Schoppmeier

    "Der oide Depp" wurde für den Grimme-Preis nominiert …

    … ein wirklich großes Kino, diese Episode 696 in der endlos-TATORT-Krimireihe …

    Für mich eine der besten Folgen der Ermittler Batic und Leitmayr, inzwischen Stand heute das meistbeschäftigte Tatort-Ermittlerteam. Erst vor wenigen Wochen am 16. Januar 2024 teilte der Bayerische Rundfunk mit, dass im Jahr 2025 mit der 100. Folge der letzte Fall des Ermittlerduos ausgestrahlt werden wird, Chapeau!! Dann haben sie ihre ganz eigenen Rückblenden, allerdings nicht im schwarz/weiß der1960er, sondern in sämtlichen kunterbunten Farben ab 1991 ;o)

    1. Avatar von Holger Schoppmeier
      Holger Schoppmeier

      "rest in peace", Fred Stillkrauth (+ 07.08.2020)

      Das berührende und tröstliche Filmende des „oiden Depp“ erinnert mich insofern an das des „Gladiators“ (Russell Crowe) aus dem Jahr 2000 (Regisseur Ridley Scott), da in beiden Werken der endgültig schicksalhafte Übergang im Sterbeprozess der jeweiligen Person an der Schwelle des Todes in die Ewigkeit jeweils mit demselben Stilmittel der Metamorphose bzw. Transformation m. E. sehr gelungen versucht wird, so sanft wie möglich abzubilden, soweit dies überhaupt vorstellbar bzw. cineastisch durchführbar ist.

      Hebt sich übrigens gerade auch in dieser Hinsicht so angenehm positiv von den ebenfalls nach meiner Ansicht momentan viel zu vielen schauerlich-kranken Psycho-Darstellungen der letzten TO-Episoden ab, selbst wenn das leider in Teilen die aktuelle gesellschaftliche Situation widerspiegelt. Man braucht nicht gleich bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf eingehen. Nebenbei gesagt war ja auch der Streifenpolizist Hubert Würzbauer sehr stark psychisch gestört, wobei sich hier aber der „Schauer der Zuschauer“ noch in vergleichsweise ertragbaren Grenzen hielt, eben weil dessen Perversitäten zwar auch detailliert, allerdings nicht übertrieben deutlich, sondern nur im angemessenen Mindestumfang sachverhaltsbezogen gezeigt wurden.

  2. Aus meiner Sicht eine vertane Chance. Die 60er sind für die Zuschauer interessant — das zeigen Serien wie Mad Men oder Pan Am. Ich wurde in den 80ern geboren, und für mich sind die 60er gleichzeitig weit genug und nah genug, dass Geschichten aus dieser Zeit eine enorme Kraft haben. Zum Teil wirken die s/w-Sequenzen in diesem Tatort sogar beklemmend. Selbst für die Helden Batic und Leitmayr scheint diese Zeit fremd. So weit, so sehr gut.

    Aber der Sirsch-Charakter hat mir diesen Tatort fast zerstört. Für mich ist völlig unglaubwürdig, wie weit sein Einfluss reicht. Ich mein, der muss doch Akten manipuliert haben, wenn er nicht in der Personalliste auftaucht. Und es passt mir auch nicht, wie Batic und Leitmayr sich von ihm an der Nase herumführen lassen. Aus meiner Sicht wäre es wohl besser gewesen, wenn Sirsch als einfacher Zeuge aufgetreten wäre und nicht als "Kollege". Die Auflösung fand ich einerseits glaubwürdig, andererseits aber zu wenig. Es gab ja offensichtlich nicht nur eine oder wenige zwielichtige Personen, sondern ein ganzes problematisches System. Dem wird nicht genug auf den Grund gegangen.

    Wie gesagt, aus meiner Sicht eine vertane Chance.

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