Folge: 856 | 30. Dezember 2012 | Sender: BR | Regie: Alexander Adolph
Bild: ORF/BR/Kerstin Stelter |
So war der Tatort:
Trügerisch-tragisch.
Denn ziemlich genau eine Stunde lang wird der Zuschauer in Der tiefe Schlaf bei herrlichem Frühlingswetter in falscher Sicherheit gewogen – um dann urplötzlich mit einer kolossalen Kehrtwende aufs Kreuz gelegt zu werden und ein Wechselbad der Gefühle zu durchleben.
Der oft humorvolle Auftakt, der sich im letzten Krimidrittel als tragischer Nährboden für ein stark arrangiertes Finale und einen dramatischen Schlussakkord entpuppt, riecht zunächst verdächtig nach einem uninspirierten Drehbuch vom Reißbrett: Schon wieder ein neuer Kollege mit vielen Marotten, dessen Namen sich das angesichts der unzähligen Tatort-Teams im Jahr 2012 ohnehin schon gebeutelte Publikum merken muss.
Ex-Funker Gisbert Engelhardt (Fabian Hinrichs, ab 2015 im Franken-Tatort als Hauptkommissar Felix Voss zu sehen), der den Münchener Ermittlern Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) aufs Auge gedrückt wird, macht bei seinem ersten Fall eigentlich so ziemlich alles falsch: Der Frischluftfanatiker und Spontan-Profiler stürzt sich zwar topmotiviert in den Fall und zweifelt zu keiner Sekunde an seinen Fähigkeiten, zeichnet sich aber in erster Linie durch stümperhafte Verhörmethoden, unpassende Erfolgsversprechungen und waghalsige Theorien aus, die er immer wieder über den Haufen werfen muss.
ENGELHARDT:Sportlehrer sind oft spitz auf ihre Schülerinnen!
Nur ein weiterer, müder Sidekick, der in die Fußstapfen von Carlo Menzinger (Michael Fitz) treten und die ergrauten Münchener Kommissare mit seinem Fehlverhalten ein wenig auf Trab bringen soll? Von wegen.
Zwar muss sich Engelhardt, den vor allem Batic mit Engelsgeduld an die Hand nimmt, wie schon der ungeliebte Kollege Fechner (Maxi Schafroth) aus dem durchwachsenen Münchener Vorgänger Ein neues Leben schon nach nur einem Auftritt wieder vom Tatort verabschieden – der Grund ist diesmal aber ein anderer. Und wer den 856. Tatort nach einer knappen Stunde abschaltet, weil er glaubt, das alles schon mal gesehen zu haben, begeht daher einen schweren Fehler.
Auf Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph, der bereits die überragenden Drehbücher zu den Tatort-Meilensteinen Der oide Depp, Nie wieder frei sein und Der Weg ins Paradies schrieb, ist nämlich auch diesmal Verlass: Wenngleich sich sein unbeschwerter, jedoch nie zu klamaukiger Grundton („Wollen wir nach der Arbeit vielleicht eine Hopfenkaltschale trinken gehen?“) nur schwer mit dem grausamen Mord an der jugendlichen Carla (Anna Willecke, Kinderland) in Einklang bringen lassen will, bricht der Filmemacher erneut mit mehreren eisernen Tatort-Prinzipien und enthält dem Publikum sogar das Gesicht des Täters vor, auf dessen Spur die akribische Tonbandanalyse Engelhardts führt.
Dass sich keiner der beiden Hauptverdächtigen – sei es der transpirierende Sportlehrer Seifert (Stefan Murr) oder der alles andere als zimperliche Spediteur (Wolfgang Maria Bauer, Ein Sommernachtstraum) – ernsthaft als Täter aufdrängt, ist der Spannung zwar nicht zuträglich, am Ende aber bemerkenswert konsequent: Der tiefe Schlaf verfolgt höhere Ziele als bloß die Auflösung eines Whodunits von der Stange und verdeutlicht eindringlich, dass ein Mord selbst altgediente Kommissare wie Batic und Leitmayr, die den Fall zwischenzeitlich gar abgeben müssen, vom gewohnten Kurs abbringen kann.
Das schmeckt nicht jedem Zuschauer, macht die letzte aber zugleich zu einer der besten Tatort-Folgen des Jahres 2012.
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