Folge 968
27. Dezember 2015
Sender: HR
Regie: Bastian Günther
Drehbuch: Bastian Günther
So war der Tatort:
Selbstreflexiv.
Der fünfte Fall von LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) ist strukturell die bis dato außergewöhnlichste Tatort-Folge aller Zeiten – denn was der Hessische Rundfunk in diesem Meisterwerk mit Murot und seiner Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) veranstaltet, sucht in der Geschichte der Krimireihe seinesgleichen.
Bastian Günthers Wer bin ich? ist kein Tatort im eigentlichen Sinne, sondern eine pfiffige, vor Selbstironie nur so triefende Film-im-Film-Konstruktion, eine clevere Satire, in der sich nicht nur Tukur und Philipp, sondern auch drei weitere Tatort-Schauspieler selbst spielen dürfen.
Die Rahmenhandlung um zwei Tote in einem Parkhaus spielt schon nach wenigen Minuten keine Rolle mehr: Nachdem Murot die Leichen gefunden hat, blickt der Zuschauer auf einmal hinter die Kamera – mitten ins Tatort-Set. Dort gönnt sich der verkaterte Tukur, der sich ab sofort selbst spielt, gemeinsam mit der Leiche einen Kaffee am Catering-Stand und muss kurz darauf feststellen, wie man sich als Tatverdächtiger fühlt: Auch der Assistent des Aufnahmeleiters wurde ermordet, und Tukur kann gegenüber den argwöhnischen Polizisten Kugler (Sascha Nathan, Hinter dem Spiegel) und Kern (Yorck Dippe) kein Alibi für die Tatnacht vorweisen.
In der Folge entwickelt sich ein mit erfrischenden Ideen und köstlichen Anspielungen nur so gespickter, fiktiver Blick hinter die Kulissen des Filmemachens, bei dem Tukur unter anderem seinem Kollegen Wolfram Koch aus dem Frankfurter Tatort begegnet: Der entpuppt sich als egozentrische Diva und macht sich den ganzen Tag darüber Gedanken, wie er die Waffe vor der Kamera wohl am coolsten hält. Und quartiert sich trotz seines Frankfurter Wohnsitzes im Hotel ein, um dort im Bademantel junge Damen vom Zimmerservice zu empfangen.
Wer bin ich? ist nach der tollen Krimi-Groteske Das Dorf und der fantastischen Italo-Western-Theater-Oper Im Schmerz geboren der nächste herausragende Beitrag aus Wiesbaden, an dem sich die Geister geradezu scheiden müssen.
Der Spaß an diesem einmaligen TV-Experiment ist allen Beteiligten anzumerken: Die HR-Redakteure Jörg Himstedt und Liane Jessen werden zu Jens Hochstätt (Michael Rotschopf, Eine Frage des Gewissens) und Inge Janssen (Caroline Schreiber, Müll), und sie hätten mit Matthias Schweighöfer oder Heino Ferch natürlich Nachfolgelösungen im Petto, wenn ihr gut bezahlter Hauptdarsteller Tukur wirklich Dreck am Stecken haben sollte.
Anders als im Tatort aus Münster, in dem sich die Albernheiten allein aus den Figuren ergeben, resultiert der extrem hohe Unterhaltungswert dieser Krimi-Satire aus pointierten Dialogen, köstlicher Situationskomik und subtilen Anspielungen – zum Beispiel dann, wenn Tukur beim letzten Verhör wie selbstverständlich aus einer stilechten Tatort-Tasse trinken soll. Und wenn Tukur als Tukur Tukur als Murot begegnet, weht sogar ein Hauch von Fight Club durch den Film. Ab und an ist der Grat zwischen Selbstironie und Selbstverliebtheit allerdings schmal: Während im Schneideraum ein Im Schmerz geboren-Poster hängt, zappt sich Tukur auf dem Hotelzimmer durch den berühmten Tanz der Kessler-Zwillinge.
Neben Tukur, Philipp und Koch dürfen sich auch dessen Frankfurter Tatort-Kollegin Margarita Broich und Martin Wuttke, der in Niedere Instinkte letztmalig als Leipziger Hauptkommissar Andreas Keppler zu sehen war, selbst spielen: Während Broich am Set des eigenen Tatort-Drehs rumzickt, weil ihr Leinwandpartner im größeren Wohnwagen hausen darf, steht Wuttke nach seiner Entlassung durch den MDR vor der Privatinsolvenz und muss sich in schlechten Dialogen als Nebendarsteller verdingen. Es ist ein urkomischer, vielleicht sogar Wuttkes bester Tatort-Auftritt.
Auch Justus von Dohnányi, der bei Das Dorf und Schwindelfrei Regie führte, stiehlt als exzentrischer Regisseur mit Vorliebe für Biergulasch jede Szene. Schnell entlarven die Filmemacher Tukurs Kollegen als falsche Fuffziger, die Neid und Missgunst durch vordergründiges Duzen und Küsschen überspielen – und auch die quotenstarke Tatort-Konkurrenz aus Westfalen bekommt in diesem hochunterhaltsamen Meilenstein der Tatort-Geschichte ihr Fett weg.
Bewertung: 10/10
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