Folge: 970 | 3. Januar 2016 | Sender: NDR | Regie: Christian Alvart
Bild: NDR/Gordon Timpen |
So war der Tatort:
Streng geheim.
Fegefeuer ist die direkte Fortsetzung zu Der große Schmerz – und wurde im Vorfeld der Erstausstrahlung für alle Journalisten und Medien unter Verschluss gehalten. Ein Prozedere, das es seit vielen Jahren bei der Krimireihe nicht gegeben hat, und die Begründung des NDR fiel seltsam aus: Man befürchtete, die Journalisten könnten Details der Handlung verraten.
Bei anderen Tatort-Folgen mit überraschenden Schlusswendungen (zum Beispiel Borowski und der stille Gast) war dem Sender das allerdings herzlich egal – und so drängte sich im Vorfeld eher der Verdacht auf, dass Hauptdarsteller Til Schweiger, der seine Kinofilme aus Prinzip schon seit Keinohrhasen nicht mehr in Pressevorführungen zeigen lässt, bei der Entscheidung ein Wörtchen mitzureden hatte. Doch die Geheimniskrämerei hat andere Gründe: Zum ersten Mal in der Tatort-Geschichte vermischt der NDR sein fiktives Krimiformat über die komplette Spielzeit mit der seriösesten deutschen Nachrichtensendung: der tagesschau.
Einzig die Münchner Abendzeitung hatte schon vorab Wind von der Aktion bekommen, doch anders als ursprünglich geplant, beginnt Fegefeuer wie gewohnt mit dem Fadenkreuz-Vorspann. Dann ist der Zuschauer plötzlich mittendrin im Geschehen: Nachrichtensprecherin Judith Rakers und ein Dutzend weiterer Geiseln geraten in die Gewalt von tschetschenischen Gangstern – ein toller Einstieg in einen Tatort, der in der Folge neue Maßstäbe in Sachen Action, Brutalität und Tempo setzt.
Selbst eine Panzerfaust bleibt den Tatort-Traditionalisten nicht erspart: Wer sich auf einen Krimi nach Schema F gefreut hat, sitzt im völlig falschen Film. Regelmäßig eingeblendete Uhrzeiten unterstreichen den Echtzeitcharakter des Actionthrillers, der dem Publikum kaum Zeit zum Luftholen lässt: In Hamburg wird einmal mehr geklotzt und nicht gekleckert.
Regisseur Christian Alvart (Kopfgeld) zieht die Actionschraube noch einmal an und liefert starke, diesmal auch atmosphärisch überzeugende Bilder – aber auch immer wieder Zeitlupen, die künstliche Dramatik schüren, wenn Schauspiel und Geschehen dafür allein nicht ausreichen. Wie schon in den vorherigen Folgen gerät LKA-Kommissar Nick Tschiller (Til Schweiger) mit Clan-Chef Firat Astan (Erdal Yildiz) aneinander, doch waren die Grenzen zwischen Gut und Böse bisher überdeutlich gezogen, verwischen sie diesmal: Astan und Tschiller müssen sich solidarisieren. Das bringt einige platte Sprüche, aber auch giftige Dialoge mit sich („Ich verkauf Glückskekse an deinem Grab.“).
Partner Yalcin Gümer (Fahri Yardim) wirkt mit seinen trockenen One-Linern („Nimm den Schaumstoff weg!“) ebenfalls nicht so überzeichnet wie in Der große Schmerz. Ohnehin sind der Humor und der Familienkitsch mit Tschiller-Tochter Lenny (Luna Schweiger) deutlich geringer dosiert, stattdessen jagt in Fegefeuer eine packende Actionsequenz die nächste. Die Logik wird vernachlässigt, die körperliche Gewalt hingegen zelebriert – zum Beispiel dann, wenn Astan einen russischen Killer stranguliert oder sich Tschiller eine spitze Klinge aus dem Nacken zieht.
Stammautor Christoph Darnstädt scheint darum bemüht, seinen explosiven Hamburger Meilenstein Der Weg ins Paradies zu übertreffen und orientiert sich dabei unverhohlen an Hollywood-Vorbildern: Die Adrenalinspritze, die dem LKA-Kommissar auf der Zielgeraden neues Leben einhaucht, kennen wir aus dem Actionthriller Crank, zwei gegen einen gemeinsamen Feind kämpfende Vertreter von Gut und Böse zum Beispiel aus dem Actionfeuerwerk The Rock, und das finale Duell im Metronom von Hamburg nach Bremen erinnert stark an berühmte Bond-Fights in Liebesgrüße aus Moskau oder Der Spion, der mich liebte.
Etwas mehr Eigenständigkeit hätte dem 970. Tatort gut zu Gesicht gestanden, doch angesichts des hohen Unterhaltungswerts sind die Anleihen aus diesen populären Kinofilmen zu verschmerzen. Fegefeuer ist nicht weniger als der adrenalinschwangerste Tatort aller Zeiten – und zugleich der mit Abstand beste Schweiger-Tatort, der die Neugier auf den wenige Wochen später anlaufenden (aber kolossal floppenden) Kino-Tatort Tschiller: Off Duty weckt.
Angesichts der inhaltlichen Parallelen zu den Terror-Anschlägen von Paris ist auch die Verschiebung der Doppelfolge nachvollziehbar: Manch einer hätte die Ausstrahlung im November wohl als geschmacklos empfunden.
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