Folge: 1051 | 11. März 2018 | Sender: Radio Bremen | Regie: Philip Koch
Bild: Radio Bremen/Christine Schröder |
So war der Tatort:
Pflegesystemkritisch.
Denn Regisseur Philip Koch (Hardcore) und Drehbuchautorin Katrin Bühlig (Die Liebe, ein seltsames Spiel) widmen sich in ihrem ersten gemeinsamen Tatort einem Thema, das spätestens seit dem engagierten TV-Auftritt eines jungen Auszubildenden im Bundestagswahlkampf 2017 verstärkt in den Blickpunkt gerückt ist: unserem Pflegesystem.
Anders als Rainer Kaufmann in seinem großartigen Polizeiruf 110: Nachtdienst, in dem Hans von Meuffels (Matthias Brandt) in einem Münchner Pflegeheim ermittelte, beleuchten die Filmemacher speziell die häusliche Pflege und erweitern dabei geschickt die Perspektive: Mit dem wenig integren Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix, Kalte Wut), der im Einzelfall über die Pflegestufen entscheidet, gibt es beim 32. gemeinsamen Einsatz der 2019 aus der Krimireihe ausscheidenden Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) eine dritte Person, die als Türoffner in die Haushalte fungiert und dem TV-Publikum Im toten Winkel unserer Gesellschaft einen kleinen Wissensvorsprung ermöglicht.
Das Ergebnis ist alles andere als leichte Kost, denn schon zu Beginn gilt es für den Zuschauer, eine der beklemmendsten Szenen der jüngeren Tatort-Geschichte durchzustehen: Rentner Horst Claasen (Dieter Schaad, Altlasten) erstickt seine demente Frau Senta (Liane Düsterhöft, Schlafende Hunde) mit einem Kissen und will sich anschließend selbst das Leben nehmen – wird aber in letzter Sekunde gerettet, weil er einen Notruf absetzt und sich Minuten vor seinem geplanten Tod noch Gedanken um seine direkten Mitmenschen macht.
CLAASEN:Ich möchte nicht, dass die Nachbarn sich von uns belästigt fühlen. Tote riechen doch, oder?
Schon die Eröffnungssequenz gibt einen Vorgeschmack auf die fordernde Gangart, die die Filmemacher vorlegen: Im toten Winkel ist weit mehr als ein einfacher Sonntagskrimi, denn Koch und Bühlig verorten die klassischen Whodunit-Elemente – die obligatorische zweite Tatort-Leiche folgt nach einer knappen Stunde – in einem aufwühlenden Pflegedrama.
Der ruhige Erzählton und der Verzicht auf einen klassischen Spannungsbogen steht dabei insbesondere der gewohnt besonnenen Lürsen gut zu Gesicht, die 2015 mit dem ähnlich leisen, aber nicht minder kraftvollen Die Wiederkehr einen ihrer stärksten Fälle verzeichnete. Durch die nüchterne, fast dokumentarische Inszenierung, die meist fehlende Filmmusik und den auffälligen Fokus auf die Geräuschkulisse ergibt sich im 1051. Tatort beim Besuch in den Bremer Haushalten ein ungemein authentisches und ungeschöntes Bild.
Nicht nur Claasens Kraftreserven hat die häusliche Pflege irgendwann aufgezehrt: In der zunehmend überforderten Akke Jansen (überragend: Dörte Lyssewski, Ohnmacht), die ihre an Alzheimer erkrankte Mutter Thea (toll: Hiltrud Hauschke) pflegt, finden vor allem Zuschauer, die selbst einen Angehörigen pflegen, eine starke Identifikationsfigur, die ihnen mit ihrer ständigen Zerrissenheit zwischen der Liebe und Abneigung gegenüber der eigenen Mutter („Wann stirbst du endlich, Mama!?“), der kraftraubenden 24-Stunden-Betreuung und der ohnmächtigen Wut auf den einflussreichen Gutachter Kühne aus der Seele sprechen dürfte.
Auch beim alleinerziehenden Oliver Lessmann (Jan Krauter, Wendehammer), der seine bettlägerige Frau zu Hause pflegen lässt, stehen Kühne und der Pflegedienst Domamed mit seiner profitgierigen Leiterin Darja Pavlowa (Jana Lissovskaia) in keinem guten Licht – letztere bleibt die einzige durch und durch unsympathische Figur, weil Kühne schon bald Bedenken an den menschenverachtenden Machenschaften des Pflegedienstes plagen.
Plakative Schwarz-Weiß-Malerei findet erfreulicherweise nicht statt, zumal sich auch die Ermittler differenziert mit der moralischen und juristischen Wertung des einleitenden Todesfalls auseinandersetzen und sich in typischer Tatort-Manier selbst reflektieren: Lürsen und ihre Tochter Helen Reinders (Camilla Renschke) machen sich auf dem Dach des Präsidiums über das Leben im Alter Gedanken – das wirkt erst auf der Zielgeraden des Films etwas kitschig.
Der größte Wermutstropfen in dem ansonsten bärenstarken Krimidrama und nachdenklich stimmenden Abgesang auf das häusliche Pflegesystem ist allerdings die Auflösung der Täterfrage – die fällt zwar durchaus überraschend, aber alles andere als überzeugend aus.
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