Folge 1219
26. Dezember 2022
Sender: BR
Regie: Jobst Christian Oetzmann
Drehbuch: Robert Löhr
So war der Tatort:
Wie ein Krimidinner.
Nicht von ungefähr lautete so auch der frühere Arbeitstitel des Weihnachtstatorts 2022, der gut ein Jahr vor seiner TV-Premiere am 2. Weihnachtstag unter strenger Geheimhaltung im Oettinger Schloss gedreht wurde: Mord unter Misteln ist allein schon aufgrund seines ausgefallenen Settings, vor allem aber wegen zahlreicher überragender Anspielungen eine der außergewöhnlichsten und kurzweiligsten Tatort-Folgen aller Zeiten. Die stimmungsvolle Hommage dürfte sich zu Recht ihren festen Platz im jährlichen Weihnachtsprogramm der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sichern.
Die Idee zu diesem höchst unterhaltsamen TV-Experiment von Drehbuchautor und Tatort-Debütant Robert Löhr ist zwar nicht ganz neu, funktioniert aber hervorragend: Die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) sind mit vier weiteren Kripo-Kollegen zum festlichen Krimidinner bei Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) eingeladen – und von dort springt der Tatort direkt in ein historisches Setting. Nach einem kurzen Prolog befinden wir uns zunächst an Kallis Esstisch, dann plötzlich in einem britischen Herrenhaus der 20er Jahre: Leitmayr wird im entsprechenden Kostüm zu Inspector Francis Lightmyer und Batic (wohl oder übel) zum ihm unterstellten Constable Ivor Partridge. Eine Steilvorlage für köstliche Neckereien und den besten Running Gag des Films.
Im Kaminzimmer der arroganten Countess of Cumberledge, Lady Mona Bantam (toll: Sunnyi Melles, Erkläre Chimäre), ist deren Butler Arthur Rogers (Christoph Mory) am Heiligabend unter rätselhaften Umständen zu Tode gekommen. Neben der herrischen Hausherrin und ihrem nicht minder hochnäsigen Sohn „Charlie“ Bantam, den Ferdinand Hofer mimt, stehen auch ihr trinkfreudiger Hausarzt Dr. Mallard (Alexander Hörbe, Der König der Gosse), der durchtriebene Reverend Edgar Teal (Joshua Jaco Seelenbinder), das mittellose Dienstmädchen Heather (Marie Rathscheck) und der frühere Showstar „Sensational Kitty“ Quail (Katharina Schlothauer, Krieg im Kopf) unter Tatverdacht.
Was wie eine weihnachtliche Persiflage auf brillante Agatha-Christie-Whodunits („Wir sind doch hier nicht im Orient-Express!“) oder modernere Kinohits wie Knives Out daherkommt, ist zugleich eine nostalgisch angehauchte Cluedo-Partie im Tatort-Mantel: Unter Regie von Jobst Christian Oetzmann (Die Heilige) springen die Filmemacher wunderbar zwischen Sequenzen vor und nach der Tat und lassen zwei Zeit-und-Ort-Ebenen (die in Kallis Wohnung und die im Landhaus von 1922) elegant verschmelzen. Dabei bleibt nicht nur Zeit für humorvolle Anspielungen auf Sherlock Holmes oder Rosamunde Pilcher, sondern auch für wunderbare Meta-Momente – etwa dann, wenn Kitty (im realen Leben: Katrin) und Batic sich beim Dinner eine Pause auf dem Balkon gönnen.
Die 1219. Tatort-Folge, grandios vertont vom Münchner Rundfunkorchester, bedient gleich mehrere Zielgruppen – und das hervorragend. Zum einen die Tatort-Puristen, die am 2. Weihnachtstag nicht auf die knifflige Mördersuche verzichten möchten und trotz des historischen Settings voll auf ihre Kosten kommen (wenn sie sich denn auf das Spiel einlassen können). Intrigen, Scheinheiligkeiten und Verdächtigungen, wohin man blickt. Zum anderen Gelegenheitszuschauer, die mit dem Münchner Tatort ansonsten nicht viel anfangen können, Batic und Leitmayr – pardon: Partridge und Lightmyer – aber in der Hoffnung auf klassische Agatha-Christie-Dramaturgie mal eine Chance geben. Und nicht zuletzt jene, die weihnachtliche Wohlfühlunterhaltung suchen: Mord unter Misteln tut niemandem weh und spricht trotz des Auftaktmords sogar ein gewaltscheues Publikum an, das krimitechnisch im Vorabendprogramm zu Hause ist.
Eine mutige Gratwanderung, die erst einmal gelingen muss, doch die Filmemacher meistern sie mit Bravour. Selbst erfahrene Krimi-Experten bekommen bei der Suche nach der richtigen Auflösung – so wie wir es von hoffnungslos überlegenen Masterminds wie Miss Marple, Hercule Poirot oder Sherlock Holmes kennen – eine äußerst harte Nuss zu knacken. Der Exkurs in das prachtvoll ausgestattete Herrenhaus langweilt zu keiner Minute, weil sich praktisch im Minutentakt wichtige Erkenntnisse ergeben oder neue Überraschungen auftun. Wer gedanklich aussteigt oder nicht gut aufpasst, ist bei der Mördersuche chancenlos. Auch der Dialogwitz und die mal mehr, mal weniger subtile Situationskomik erreicht – wie so oft in den Tatort-Folgen aus München – allerhöchstes Niveau. Da kann man über ein, zwei schwächere Slapstick-Einlagen hinwegsehen, zumal sich der Film nie zu ernst nimmt und die Schauspieler ihre Rollen gnadenlos auf die Schippe nehmen.
Solch ein hinreißendes, auf ganzer Linie gelungenes Krimidinner-Experiment hat es in 52 Jahren Tatort-Geschichte noch nicht gegeben – und deshalb verdient sich der 90. Fall der altgedienten Münchner Kommissare den minimalen Abstrichen und prominenten Vorlagen zum Trotz als Tatort-Meilenstein sogar die Höchstwertung auf unserer Bewertungsskala.
Bewertung: 10/10
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