Folge 1287
1. Januar 2025
Sender: SWR
Regie: Miguel Alexandre
Drehbuch: Harald Göckeritz
So war der Tatort:
Fokussiert auf 2016.
Denn knapp drei Wochen vor der zweiten Amtseinführung des US-Präsidenten, Straftäters und 2024 beinahe bei zwei Attentaten getöteten Donald Trump werfen Drehbuchautor Harald Göckeritz (Die Sonne stirbt wie ein Tier) und Regisseur Miguel Alexandre (Die Wahrheit stirbt zuerst) den Blick zurück in das Jahr seiner ersten Wahl zum mächtigsten Mann der Welt: Die zwei Filmemacher, die auch den Ludwigshafener Vor-Vorgänger Avatar arrangierten, lassen die Ermittlerinnen einen ungeklärten Entführungsfall von 2016 neu aufrollen und verknüpfen ihn mit einem aktuellen Verbrechen im Hier und Jetzt.
Nach einem nächtlichen und zunächst etwa rätselhaften Prolog, der später eine wichtige Rolle spielt, wird der achtjährige Paul (William Vonnemann) am helllichten Tag von einem Unbekannten in ein Auto gezerrt. Einzige Augenzeugin ist seine Nachbarin Judith Lutz (Hede Beck, Das ist unser Haus), die ihr Wissen mit dem Leben bezahlt, weil der Wagen sie nach der Entführung brutal über den Haufen fährt. Pauls Eltern Ellen (Lisa Hofer, Der traurige König) und Jan Wagner (Reza Brojerdi, Fette Hunde) sind außer sich vor Sorge. Sie zahlen ein Lösegeld, das nur als Ablenkungsmanöver dient. Die Geldübergabe scheitert.
Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und ihre Kollegin Johanna Stern (Lisa Bitter) ahnen schnell, dass die Fälle zusammenhängen, und finden sich im Präsidium in einer neuen Personalkonstellation wieder: Der zuvor in der Verwaltung angestellte Nico Langenkamp (Johannes Scheidweiler) und die beim LKA vor ihrem Ekel-Chef Kurt Breising (Bernd Hölscher) geflohene Kommissarsanwärterin Mara Herrmann (Davina Chanel Fox) wurden schon im Vorgänger Dein gutes Recht vorstellig und teilen sich nun die Stelle, die durch den Abgang von Edith Keller frei wurde (weitere Informationen). Breising wiederum leitet die Soko, die fieberhaft nach dem verschwundenen Paul fahndet.
Während der LKA-Kollege sich im 1287. Tatort erneut als instinktloser Unsympath entpuppt und damit einem in der Krimireihe bei übergeordneten Behörden häufig zu beobachtenden Figurentypus entspricht, ist die Feuertaufe von Nico und Mara ein Volltreffer: Entgegen dem allgemeinen Tatort-Trend der 2010er und 2020er Jahre – man blicke nur nach Dortmund, Göttingen oder auf frühere Ludwigshafener Folgen – verstehen sich die beiden trotz der Konkurrenzsituation prächtig und tragen auf eigene Faust gewinnbringend und humorvoll zu den Ermittlungen bei. Von ihrer autoritär führenden Chefin lassen sich die beiden nicht irritieren.
Der Stelzenmann startet als Whodunit, durchlebt aber eine nicht mehr seltene Metamorphose zum Howcatchem – zuvor war das etwa im Schwarzwald-Tatort Ad Acta von 2024, im Wiener Tatort Azra von 2023 oder in der Berliner Doppelfolge Nichts als die Wahrheit (1) und Nichts als die Wahrheit (2) aus demselben Jahr ähnlich. Den Schlüssel zur Auflösung der Täterfrage bildet dabei das Entführungsopfer von einst: Der mittlerweile 18-jährige Swen (Samuel Benito, Wunder gibt es immer wieder) ist gerade bei seinen Eltern ausgezogen, arbeitet in einer Buchhandlung und lässt sich regelmäßig in einem Club volllaufen, in dem er die junge Aylin (Meryem Ebru Öz) kennenlernt. Er hat seit seinem Kidnapping schwere psychische Probleme.
Was den Kriminalfall vorantreibt, ist vor allem die Frage, warum der mit reichlich Kamerazeit gesegnete Swen sein Wissen so zögerlich preisgibt: Odenthal und Stern befragen ihn, bedrängen ihn, ermutigen ihn – aber ans Messer liefert der labile junge Mann seinen noch immer auf freiem Fuße durchs Leben spazierende Peiniger von einst deshalb nicht. Was verheimlicht er uns? Auch Aylin beißt sich die Zähne an ihm aus. Swens Trauma von 2016 ist Herzstück und Motor dieses Krimidramas, während neben seinen Eltern auch das schlimme Schicksal des in der Gegenwart entführten Paul praktisch außen vor bleibt und erst auf der Zielgeraden wieder aufgegriffen wird. Ein eigenwilliger Ansatz, aber er funktioniert: Der Stelzenmann ist bis zur letzten Minute spannend.
Beim Blick auf die Figuren bietet er allerdings Angriffsfläche. Denn insbesondere der für den damaligen Entführungsfall wichtige, im Spießerlook gekleidete Augenzeuge Oliver Kelm (Ulrich Friedrich Brandhoff, Das perfekte Verbrechen) und seine sadistisch-hexenhafte Großmutter Rita Kelm (Marie Anne Fliegel, Was wir erben) entsprechen einem sehr abgegriffenen Muster, wie wir es schon Jahrzehnte zuvor im Hitchcock-Klassiker Psycho oder in der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tag erleben durften. Beide Filme setzen auf düstere Horrormotive und kindliche Urängste, die auch in diesem Tatort eine wichtige (und titelgebende) Rolle spielen.
Im Fahrwasser der berühmten Vorbilder und anderer Entführungsthriller fährt es sich dennoch prächtig, und so ist Der Stelzenmann den genannten Schwächen, einem nicht vollständig überzeugenden Cast und einigen redundanten Erklärbär-Dialogen zum Trotz ein mitreißender Old-School-Tatort geworden. Und schlägt am Rhein dennoch erfolgreich ein neues Kapitel auf: Mit dem sympathischen Nico und der tapfer Dialekt babbelnden Mara steht die nächste Ermittlergeneration in der Kurpfalz nun womöglich in den Startlöchern.
Bewertung: 7/10
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