Folge: 1014 | 12. März 2017 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer
Bild: Radio Bremen |
So war der Tatort:
Ekelerregend.
Ein blutiger Zahn, ein abgerissener Fingernagel, ein Beutel mit verwesendem Gewebe: Das ist selbst für Gerichtsmediziner Dr. Katzmann (Matthias Brenner) zu viel, der in Nachtsicht die Trophäen eines Serienmörders untersuchen muss und seinen Mageninhalt kurzerhand dem Waschbecken in der Pathologie überlässt („Wenn das jemand mitkriegt, bin ich erledigt!“).
Den Bremer Hauptkommissaren Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen), die kurz vor der TV-Premiere ihres 30. gemeinsamen Falls ihren Abschied im Jahr 2019 bekannt gaben, ergeht es kaum besser: Ihnen kommt die undankbare Aufgabe zu, am Tatort die Leichen zu inspizieren – und von denen ist oft nur Matsch übrig geblieben.
In Bremen macht nämlich ein Autofahrer Jagd auf junge Männer: Heimlich, still und leise tastet sich der Killer nachts ohne Scheinwerferlicht mit seinem lautlosen Elektromotor an seine ahnungslosen Opfer heran, drückt dann plötzlich das Gaspedal durch und überrollt sie so lange, bis sie keinen Mucks mehr von sich geben. Bei seiner dritten Tat sehen wir den maskierten Täter erstmalig in voller Montur: ein finsteres, fast alienartiges Wesen, das sich ein monströses Nachtsichtgerät über den Kopf gestülpt hat. Doch wer steckt hinter der Maske?
Die Drehbuchautoren Stefanie Veith und Matthias Tuchmann, die zuletzt den starken Bremer Tatort Die Wiederkehr konzipierten, stellen die Täterfrage nur pro forma und brechen fleißig mit einigen ungeschriebenen Gesetzen der Krimireihe: Vieles, oft Entscheidendes spielt sich hinter dem Rücken der Kommissare ab und der Mörder ist schon bald offensichtlich.
Die Spur führt direkt zur Familie Friedland: Ex-Junkie Kristian (Moritz Führmann) kann von seinem Vater Jost (Rainer Bock) nur mit Mühe und Not aus der Schusslinie gebracht werden – er will jegliche Aufregung von seiner krebskranken Frau Leonie (Angela Roy) fernhalten, die wohl nur noch wenige Wochen oder Monate zu leben hat.
LÜRSEN:Alle um sie herum veranstalten einen großen Totentanz. Das muss aufhören.
Der 1014. Tatort wird weniger durch die Suche nach der richtigen Auflösung, falsche Fährten oder die akribische Ermittlungsarbeit der Kommissare vorangetrieben: Nachtsicht wandelt sich im Mittelteil vom packenden Serienkiller-Thriller zum beklemmenden Familiendrama.
Lebt die erste halbe Stunde noch vor allem von den fesselnd in Szene gesetzten Ausfahrten des Mörders in seinem schwarzen und in bester James Bond-Manier getunten Fahrzeug, wird schon bald das Spannungsfeld innerhalb der Familie Friedland zur Antriebsfeder des Geschehens. Konflikte werden ausgesessen, die Realität verdrängt und das Offensichtliche totgeschwiegen. Wie die Geschichte ausgehen mag und ob es dabei überhaupt Gewinner geben kann, ist schwer zu prognostizieren.
Die Filmemacher beschränken sich neben den Kommissaren, die bei ihren Ermittlungen einmal mehr von der technikaffinen BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) unterstützt werden, auf lediglich vier wichtige Figuren und räumen diesen viel Platz zur Entfaltung ein: Während Moritz Führmann (Hydra) in der Rolle des etwas debil wirkenden Nachtaktiven und Angela Roy (Liebe am Nachmittag) als einbeinige Krebskranke starke Leistungen abliefern, ragt Hollywood-Export Rainer Bock (Mord auf Langeoog) als kühl kalkulierender Vater aus dem tollen Cast noch einmal heraus.
Natalia Belitski (Mauerblümchen) kann sich als Rollstuhlfahrerin Tajana Noack weniger in den Vordergrund spielen – bekommt aber zumindest mehr Kamerazeit als die zur Stammbesetzung zählende Camilla Renschke, der in ihrer Rolle als Lürsen-Tochter Helen Reinders einmal mehr nur eine einzige Szene zugestanden wird. Reinders, die sich 2009 in Tote Männer auf ein kurzes Techtelmechtel mit Stedefreund einließ, steht im Bremer Tatort auf dem Abstellgleis – wie gut, dass der smarte Kommissar mit der toughen Selb bereits Ersatz gefunden hat.
So ist Nachtsicht unter dem Strich der stärkste Bremer Tatort seit zwei Jahren – und es kommt nicht von ungefähr, dass die Geschichte aus der Feder derselben Drehbuchautoren stammt und mit Florian Baxmeyer (Der hundertste Affe) vom selben Regisseur inszeniert wird wie das ähnlich starke Familiendrama Die Wiederkehr.
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