Folge: 874 | 20. Mai 2013 | Sender: ORF | Regie: Sascha Bigler
Bild: rbb/ORF/Toni Muhr |
So war der Tatort:
Erinnerungswürdig.
Ordentlich zittern muss der Zuschauer in Unvergessen um einen der aktuell dienstältesten Tatort-Helden: Oberstleutnant Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) wird bei einem nächtlichen Ausflug nach Kärnten aus kurzer Distanz von einer Kugel in den Kopf getroffen und erleidet ein ähnliches Schicksal wie einst Charlotte Lindholm in Vergessene Erinnerung oder Ivo Batic in Wir sind die Guten – er kann sich nach einer Not-OP nicht mehr an die Hintergründe des Anschlags erinnern. „Retrograde Amnesie“.
Zudem leidet der Wiener Ermittler an düsteren Flashbacks und plötzlichen Halluzinationen, in denen seiner Kollegin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) im Präsidium schon mal mit zwei ausgestreckten Fingern der Kopf weggepustet wird. Apropos Kopf: Eisner ziert fast die kompletten neunzig Krimiminuten eine stattliche Narbe über dem linken Ohr und ein blutiges Auge, das berühmten James Bond-Gegenspielern wie Le Chiffre oder Ernst Stavro Blofeld nicht minder gut zu Gesicht gestanden hätte.
Die Nehmerqualitäten des BKA-Ermittlers erreichen damit einen neuen Höhepunkt: Zuletzt brach er sich in Falsch verpackt die Nase, wurde im Schlachtfest Kein Entkommen von einer Grippe erwischt und musste in Lohn der Arbeit sogar mit einem Gipsbein ermitteln. Dass der Anschlag auf Eisners Leben die gewohnte Auftaktleiche ersetzt und erst nach einer halben Stunde die erste Tote gefunden wird, stört dabei nicht im Geringsten – ganz im Gegenteil.
FELLNER:
Darfst du eigentlich… Alkohol?
EISNER:Ich hab’s nit an der Leber, ich hab’s am Kopf!
Gerade der Bruch mit den klassischen Erzählkonventionen macht Unvergessen zu einem echten Highlight: Regisseur und Drehbuchautor Sascha Bigler arrangiert ein spannendes
Puzzlespiel, bei dem der wacklig auf den Beinen stehende Eisner
und die besorgte Fellner in der Provinz nach den
fehlenden Teilen im Kurzzeitgedächtnis des Ermittlers suchen. Memento und die Hangover-Reihe lassen grüßen.
Der Filmemacher gibt mit gekonnten Split-Screen-Einstellungen und
Parallelmontagen, nahtlos eingeflochtenen surrealen Momenten und vorwarnungslosen Zeitsprüngen eine Kostprobe seines inszenatorischen Könnens,
ohne dabei den Blick fürs Wesentliche zu verlieren und die ausgefallene
Form über den Inhalt zu setzen.
Die erstklassige Regie und das ungewohnte Handlungskonstrukt, bei dem der Zuschauer fleißig miträtseln und über die nächtlichen Vorfälle spekulieren darf, sind dabei nur zwei Stärken eines herausragenden Wiener Tatorts, der nicht nur spannend, sondern auch emotional, authentisch, humorvoll, und vor allem glänzend gespielt ist. Von den Nebendarstellern enttäuscht kein einziger, die in der Vergangenheit oft nervtötende Tochter Claudia (Tanja Raunig) kommt in Unvergessen nur in den ersten Krimiminuten vor, und auch
Neuhauser und Krassnitzer lassen mit
starken schauspielerischen Leistungen aufhorchen.
So bleibt dem 874. Tatort das Prädikat Meilenstein nur aufgrund der abrupten und nicht vollends überzeugenden Auflösung der Täterfrage verwehrt: Den spät eröffneten Handlungsstrang um tödliche Experimente an Alzheimerpatienten hätte es wahrlich nicht mehr gebraucht.
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