Folge 842
9. September 2012
Sender: NDR
Regie: Christian Alvart
Drehbuch: Sascha Arango
So war der Tatort:
Heimlich, still und leise – und manchmal auch ziemlich laut.
Das erscheint angesichts des Krimititels Borowski und der stille Gast ein wenig paradox, doch die Kieler Hauptkommissarin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) zeigt sich bei ihrem dritten Einsatz an der Förde alles andere als zurückhaltend: Erst latscht ihr ihr Kollege Klaus Borowski (Axel Milberg) bei der einleitenden Tatort-Besichtigung unaufmerksam durch einen 3D-Scan, kurz darauf bekommt sie ausgerechnet auf dem Flur des Präsidiums einen epileptischen Anfall. Und bettelt ihren Vorgesetzten anschließend vehement an, das frisch gelüftete Geheimnis um ihre Krankheit, das dem Zuschauer bei ihren ersten beiden Einsätzen in Borowski und die Frau am Fenster und Borowski und der coole Hund noch Rätsel aufgab, für sich zu behalten.
Er schweigt natürlich wie ein Grab, das kann er ja von Natur aus ganz gut. Doch ansonsten steht der bis dato eher als besonnen bekannte Borowski seiner aufbrausenden Kollegin in Sachen Lautstärke diesmal in nichts nach. Erneut bietet er nämlich Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) Unterschlupf, der Borowskis Wohnung bereits im Vorgänger mit seinem spontanen Einzug zur Männer-WG umfunktionierte – und verliert glatt die Fassung, als ihn sein kochbegeisterter Interimsmitbewohner auf seine auffallend schlechte Laune anspricht.
Es ist eine der stärksten, intensivsten Szenen des Films, obwohl sie mit dem fesselnden Kriminalfall nur indirekt zu tun hat – und sie birgt sogar einen wunderbaren Verweis auf Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert), die sich zweieinhalb Jahre zuvor in Tango für Borowski für lange Zeit aus dem Kieler Tatort verabschiedet.
Unterm Strich ist das aber gar nicht das, was diesen Krimi zu einem so erinnerungswürdigen macht: Drehbuchautor Sascha Arango, der bereits bei seinen herausragenden Drehbüchern zu Der kalte Tod und Borowski und die Frau am Fenster auf das Whodunit-Prinzip verzichtete, stellt auch diesmal nicht die Täterfrage, sondern liefert uns den vielleicht bekanntesten Tatort-Bösewicht aller Zeiten: Der perfide Psychopath Kai Korthals (furchteinflößend: Lars Eidinger, Hauch des Todes) nimmt als Paketbote Kontakt zu seinen Opfern auf und nistet sich als titelgebender stiller Gast vor den Augen des Zuschauers in fremden Wohnungen ein.
Damit nicht genug: Korthals wühlt tief in der Privatsphäre seiner Opfer, liest ihre Briefe, schnüffelt an ihren Schuhen, wühlt in Tampondosen und benutzt sogar ihre Zahnbürsten – und immer, wenn es für ihn brenzlig wird, verschwindet er gespenstisch in den dunklen Ecken der Wohnungen. Spätestens, wenn der Postmann zweimal klingelt und dem Sohn der heroinsüchtigen Roswitha Kranz (Peri Baumeister) einen Lutscher schenkt, schwant uns Böses.
Arango und Regisseur Christian Alvart, der bereits bei Borowski und der coole Hund Regie führte, konfrontieren den Zuschauer gezielt mit seinen Urängsten und arrangieren ein zutiefst beunruhigendes Szenario, in dem die eigenen vier Wände keinerlei Sicherheit mehr bieten. Eine schreckliche Vorstellung, und diese Erfahrung macht auch Brandt: Die aufbrausende Epileptikerin („Fuck die Fakten!“) bekommt im Rahmen einer hochspannenden Hommage an Alfred Hitchcocks Suspense-Meisterwerk Psycho ungebetenen Besuch in ihrem Badezimmer.
Es ist aber auch das geschickte Spiel mit den Konventionen der Krimireihe, die den 842. Tatort so großartig machen: Statt alles auf Brandts Rettung in letzter Sekunde zuzuspitzen, bringt Korthals ihr Tabletten ans Bett – ein nicht minder elektrisierender Moment, der sich trotz des glimpflichen Ausgangs viel spannender gestaltet als beispielsweise die vielen Rettungsaktionen von Tatort-Kollegin Lena Odenthal. Dieser Krimi ist schlichtweg nie auszurechnen und dabei beklemmend und erschütternd bis ins Mark. Die letzte Trumpfkarte hebt Arango sich sogar noch für die Schlussminute auf.
Dass der Krimi mit kleineren Logiklöchern zu kämpfen hat, ist angesichts des immens hohen Unterhaltungswerts zu verschmerzen: Die Gewissheit der Kommissare, dass sie es mit einem gewieften und penibel auf seine Tarnung bedachten Einbrecher zu tun haben, reift recht schnell, und warum das Handy des Flüchtenden nicht einfach geortet wird, leuchtet auch nicht recht ein. Borowski und der stille Gast ist dennoch ein herausragender und hochspannender Tatort, ein Meilenstein der Krimireihe, dessen brillantes Drehbuch nahtlos an die Klasse des Vorvorgängers Borowski und die Frau am Fenster anknüpft – und der schon bald zum Kult-Krimi mit Kult-Killer wird, der in Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes sein Comeback gibt.
Bewertung: 10/10
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