Offenes Ende: Interpretation und Erklärung zum Wiener Tatort „Azra“

Im Tatort Azra, der am Pfingstmontag 2023 ausgestrahlt wurde, bleibt das Ende offen. Lies hier, wie wir die Schlusssequenz und den letzten Dialog des Krimis aus Wien interpretieren.

Bild: ARD Degeto/ORF/Darryl Oswald
Der österreichische Tatort Azra mit dem Wiener Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Majorin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) endete am 29. Mai 2023 sehr ungewöhnlich: Statt die Mörderin wie in der Krimireihe üblich nach dem Geständnis zu verhaften und abzuführen, sind die beiden sich unsicher, was zu tun ist. Dann treffen sie gemeinsam eine Entscheidung.


So endet der Wiener Tatort „Azra“

Es hätte alles so einfach sein können: Sektionschef Ernst Rauter (Hubert Kramar) und seine Kollegin vom Wirtschaftsdezernat, Eva Brunner (Zeynep Buyra), haben den Journalisten auf der Pressekonferenz soeben die Lösung des Mordfalls im Mafiamilieu präsentiert: Luka Datviani (Temiko Chichinadze) wurde von seinem Bruder, dem georgischen Clanchef Beka Datviani (Lasha Bakradze), auf einem Parkplatz vor dessen Nachtclub erschossen.
Eine Viertelstunde vor dem Abspann kommen Bibi Fellner aber Zweifel am Tathergang – und durch den Begriff „Brudermörder“, den die entführte verdeckte Ermittlerin Azra (Mariam Hage) dem vermeintlichen Täter beim Showdown an den Kopf wirft, kommt sie Azra noch auf die Schliche. Die V-Frau, die Moritz Eisner einst für die Polizei rekrutiert hatte, hat sich am Clanchef gerächt und dessen Bruder selbst erschossen, weil der einst Azras Bruder eine Überdosis Drogen hatte injizieren lassen. Den Mord konnte sie Beka Datviani leicht in die Schuhe schieben.
Als Eisner und Fellner die verdeckte Ermittlerin mit der finalen Erkenntnis konfrontieren, räumt diese den Mord nach kurzem Zögern unumwunden ein, bringt die beiden aber zugleich in eine moralische Zwickmühle: Als V-Frau wäre sie beim zu erwartenden Prozess die einzige Belastungszeugin, um den Clanchef für viele Jahre hinter Gitter zu bringen. Bis dato war es dem BKA nie gelungen, genügend Beweise für dessen kriminelle Machenschaften zu sammeln. Sie nun als abgebrühte Mörderin zu überführen, würde Azra vor Gericht jede Glaubwürdigkeit nehmen – und das hieße gleichzeitig, dass Beka Datviani ein weiteres Mal ungeschoren davon kommt.

AZRA:
Schau, es ist ganz einfach: ich oder Datviani. Frag dich halt, was die Welt besser macht.


Mit allen Wassern gewaschen: die verdeckte Ermittlerin Azra (Mariam Hage).
Bild: ARD Degeto/ORF/Darryl Oswald

Nach diesen Sätzen wenden sich Eisner und Fellner von Azra ab. Eisner ist zunächst erbost, Fellner wirkt irritiert und nachdenklich. Die beiden verlassen Azras Wohnung in einem „Safe House“ nacheinander und treffen sich im Morgengrauen vor dem Mietshaus wieder. Nach einem kurzen Moment des Schweigens ergreift Eisner das Wort und es folgt ein Dialog, der erkennen lässt, wie sehr die beiden hin- und hergerissen sind:

EISNER:
Was glaubt die, wer sie ist? Was die da vorschlägt? Ich hab‘ ihr vertraut. Und weißt du, was der Witz ist? Sie hat Recht. Sie hat absolut Recht. Die Welt wär‘ ein besserer Ort, wenn der Datviani im Bau landen würde.

FELLNER:
Ja.

EISNER:
Mord, Drogen, Menschenhandel, Geldwäsche: Das hat der alles drauf. Es würde keinen Unschuldigen treffen.

FELLNER:
Na.

An diesen Dialog schließt sich ein weiterer Moment des Schweigens an, bevor die Kamera kurz in die Vogelperspektive wechselt: Wir schauen vom Balkon von Azras Wohnung auf Eisner und Fellner hinab und die beiden blicken wortlos zur Wohnung hinauf.
Nach einem Schnitt ist die Kamera plötzlich neben Azra, die sich mit Kopfhörern in den Ohren über das Balkongitter lehnt. Durch diesen kurzen Schauplatzwechsel hinauf auf den Balkon verpassen wir mögliche weitere Diskussionen zwischen den Ermittlern. Dann folgt der Wortwechsel, der das offene Ende in diesem Tatort auf den Punkt bringt:

EISNER:
Okay. Gibt eh nur eins, was wir tun können.

FELLNER:
Ja.

In diesem Tatort meist einer Meinung: Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser).
Bild: ARD Degeto/ORF/Darryl Oswald

Unsere Interpretation der letzten Tatort-Szene

Wir interpretieren das Ende im 1239. Tatort so, dass das Publikum für einen Moment im Unklaren gelassen werden soll. Die innere Zerrissenheit der Ermittler verdeutlicht, wie schwer die Entscheidung zu treffen ist. Wir sollen uns fragen: Was sollten die beiden tun? Die geständige Täterin, die aus Rache für den Tod ihres Bruders zur Mörderin wurde, hinter Gitter bringen und damit einen weitaus kriminelleren, aber bis dato nie verurteilten Clanchef laufen lassen? Oder diesen Schwerkriminellen für einen Mord büßen lassen, den er gar nicht begangen hat – dafür aber viele andere Straftaten?  
Ein klares Indiz, wie Eisner und Fellner sich nach ihrem kurzen Gedankenaustausch entschieden haben, gibt es allerdings. Als die beiden zurück in Richtung Wohnung laufen, greift sich Fellner hinter ihrem Rücken an den Gürtel und zückt Handschellen, die bei einer Verhaftung bekanntlich Verdächtigen angelegt werden. Nach einem erneuten Schnitt ist die Kamera wieder in Azras Wohnung, wo diese noch immer auf dem Balkon steht. Als Azra aus dem Sichtfeld tritt, werden die Schlusscredits eingeblendet und es folgt der Abspann.
Es liegt nahe, dass Eisner und Fellner kurz darauf erneut in der Wohnung aufschlagen und Azra die Handschellen anlegen – diesen Moment spart der Krimi allerdings aus. Weil die beiden kurz zuvor noch von starken Gewissensbissen geplagt wurden und nicht mehr beim Betreten der Wohnung oder der Verhaftung gezeigt werden, gibt es damit keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Azra für ihre Tat bestraft wird. Wohl aber eine klare Tendenz.
Im nächsten Wiener Tatort Bauernsterben, der für Herbst 2023 angekündigt ist, ist die kriminelle V-Frau definitiv nicht dabei. Dafür ist dann wieder die Kollegin Meret Schande (Christina Scherrer) mit von der Partie, die in Azra einmalig fehlte.