Folge 1276
20. Oktober 2024
Sender: HR
Regie: Matthias X. Oberg
Drehbuch: Michael Proehl, Dirk Morgenstern
So war der Tatort:
Historisch.
Das gilt zwar im übertragenen Sinne für viele Tatort-Ausgaben mit LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur), der etwa in wegweisenden Tatort-Meilensteinen wie Im Schmerz geboren oder Murot und das Murmeltier mitwirkte. In Murot und das 1000-jährige Reich gilt das aber sogar wörtlich: Von wenigen Minuten im Hier und Jetzt abgesehen, spielt der in den Opening Credits mit altdeutscher Schrift verzierte Tatort im Jahr 1944 – und damit in einer düsteren Zeit, in der der Zweite Weltkrieg seinen Wendepunkt schon erlebt hatte und die Invasion der Alliierten im von den Nationalsozialisten regierten und terrorisierten Deutschland kurz bevor stand.
Nicht zum ersten Mal sind Ulrich Tukur und Barbara Philipp in Doppelrollen zu sehen: Tukur, der in seiner langen Schauspielkarriere auch zahlreiche Nazi-Größen (etwa Erwin Rommel) verkörperte, mimte etwa in Die Ferien des Monsieur Murot einen Doppelgänger seines Kriminalisten und in Wer bin ich? sogar sich selbst. Philipp wiederum ist diesmal nicht nur als Assistentin Magda Wächter, sondern vor allem als jüdische Gastwirtin Else Weiß zu sehen. Die ist in einem hessischen Dorf vor der Gestapo untergetaucht, in das es nach einer Autopanne auch den altgedienten Kriegshelden und Sonderermittler Rother verschlägt, den Tukur spielt.
Rother kommt allerdings nicht allein, denn neben zwei Fahrern begleitet ihn auch sein Adjutant: Der ehrgeizige Hagen von Strelow (Ludwig Simon, Söhne und Väter) ist fanatischer Nazi und ein leichtgläubiges Opfer der den „Endsieg“ prophezeienden NS-Propaganda. Als in der Nähe des Dorfes tote deutsche Soldaten und die Leiche eines englischen Piloten gefunden werden, nehmen sich Rother und von Strelow der Sache an – ein Whodunit im Jahr 1944, wie ihn innerhalb der Krimireihe wohl nur der Hessische Rundfunk in Auftrag zu geben vermag.
In diesem gewohnt außergewöhnlich arrangierten Tatort mit Ulrich Tukur darf aber auch eine musikalische Einlage nicht fehlen: Sang der Schauspieler und Musiker in Das Dorf 2011 mit den Kessler-Zwillingen oder musizierte er ein Jahr später in Schwindelfrei in einer Zirkusmanege, stimmt er diesmal im Wirtshaus am Klavier einen britischen Patriotensong zur Melodie des Colonel Bogey March an, der seinen Oberst Rother Kopf und Kragen kosten könnte. Eine ebenso grandiose wie verblüffende Szene.
Göring has two, but very small,
Himmler has something sim’lar,
and little Goebbels has no balls at all…
„In diesem Film gibt es alles. Nazis, Anti-Nazis und komische Figuren, die gelandet sind“, gab Ulrich Tukur während der Dreharbeiten einer großen Boulevardzeitung zu Protokoll. Klingt wild, und er hat Recht: Rother und sein junger Adjutant treffen etwa auf den kriegsversehrten Schmied Lobus (André Meyer, Schützlinge) und seine verbitterte Frau Gerda (Melanie Straub, Niemals ohne mich), die ihn mit dem undurchsichtigen Professor Bernhard Tabler (Cornelius Obonya, Glück allein) betrügt. Und auch auf deren fehlgeleitete Tochter Waltraud (Viola Hinz), die nicht nur artig den Hitlergruß macht, sondern auch gern zu Buntstift und Waffe greift. Aber gibt es im 13. Murot-Tatort auch Spannung?
Leider bei weitem nicht so viel wie erhofft: Murot und das 1000-jährige Reich entpuppt sich als überraschend geradlinige, stellenweise fast zähe Angelegenheit. Auch die Figuren vermögen selten zu überraschen; die Rollen von Gut und Böse sind überwiegend klar verteilt. Ein Budget, das für aufwändige Historienfilme normalerweise bereitgestellt wird, stand nicht zu Verfügung, und so drehte der HR einfach im Hessenpark in Neu-Anspach: Das Dörfchen wird zu einem zwar reizvollen, in Sachen Setting und Ausstattung aber auch limitierten Mikrokosmos. Vom oben zitierten, launigen Kneipenabend einmal abgesehen, wirkt die namenlose Ortschaft phasenweise wie eine Geisterstadt, deren Innenleben eher an ein Kammerspiel erinnert.
Ein Vorwurf ist den Drehbuchautoren Michael Proehl (Im Schmerz geboren) und Dirk Morgenstern (Wer Wind erntet, sät Sturm), die zuletzt den Frankfurter Abschiedstatort für Anna Janneke und Paul Brix schrieben, aber kaum zu machen: Ein NS-Drama mit einem klassischen Sonntagskrimi zu kreuzen, erfordert schließlich fast zwangsläufig Abstriche. Unter Regie von Matthias X. Oberg, der auch den langatmigen Vor-Vorgänger Murot und das Gesetz des Karma inszenierte, kann der 1276. Tatort zwar nicht mit großen Historiendramen mithalten, funktioniert als Krimi mit kniffliger Auflösung aber ziemlich gut. Tatort-Puristen werden mit diesem Film aber allein schon aufgrund des historischen Settings kaum glücklich.
Einige starke und originelle Momente hat der Film aber allemal: Wir lernen Entlarvendes über Völkerball und der Brückenschlag ins Jahr 2024, der über die Überführung des inzwischen fast 100-jährigen Kriegsverbrechers Hagen von Strelow (Ralf Harster, Das zweite Gesicht) hergestellt wird, mündet in eine surreal angehauchte Sequenz im Flugzeug (die wir hier näher erläutern). Auch schauspielerisch gibt es ein klares Highlight: Während Tukur als kriegsmüder Oberst phasenweise unterfordert wirkt, spielt sich der blendend aufgelegte Ludwig Simon als glühender Nazi fast in jeder Szene in den Vordergrund.
Als geradezu prophetisch für diesen Film erwies sich neben dem Film-im-Film-Experiment Wer bin ich?, in dem Barbara Philipp sich darüber beklagt, dass Ulrich Tukur ständig Nazi-Rollen und dafür einen Filmpreis nach dem nächsten bekäme, übrigens auch der Vorgänger Murot und das Paradies: Felix Murot darf darin schließlich in einer Traumsequenz in NS-Uniform Adolf Hitler höchstpersönlich ins Jenseits befördern. Dem Diktator und Massenmörder begegnen wir in diesem Tatort allerdings nicht – das wäre des Guten wohl auch zu viel gewesen.
Bewertung: 6/10
Erklärung: So deuten wir das Finale im Flugzeug
Drehspiegel: Der nächste Murot-Tatort wird noch verrückter
Ausblick: Dieser Tatort läuft am nächsten Sonntag
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