Folge 34
11. November 1973
Sender: BR
Regie: Wolfgang Staudte
Drehbuch: Michael Molsner
So war der Tatort:
Fast 20 Jahre mit einem Sperrvermerk belegt.
Der Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks verfrachtete den 34. Tatort nach seiner Erstausstrahlung wegen der angeblich „brutalen und menschenverachtenden Darstellung“ des Vermieters Pröpper (Walter Sedlmayr, Münchner Kindl), einer zentralen Figur in diesem Krimi, nämlich umgehend in den Giftschrank – das Wiederholungsverbot wurde erst 1992 wieder aufgehoben.
Zum ersten Mal in der Tatort-Geschichte dokumentiert ein Beitrag dezidiert die sozialen Gegebenheiten der kleinbürgerlichen Gegenwart. Das bis heute aktuelle Thema, die Vernichtung von erschwinglichem Wohnraum in Großstädten, beleuchtet er dabei aus der Perspektive der Opfer – der Mieter. Und genau hier liegt der Unterschied zu späteren, ähnlich gelagerten Folgen; Die dritte Haut aus Berlin, Wie alle anderen auch aus Köln oder die Münchner Beiträge Die Liebe, ein seltsames Spiel und Der Traum von der Au etwa, bei denen die prekären Lebenssituationen in erster Linie die Betroffenheit der Ermittelnden transportiert.
Im Lehel gehen die Münchner für bezahlbaren Wohnraum auf die Straße. Das illustriert eine 30-sekündige, dokumentarische Schwarz-Weiß-Aufnahme aus einer Nachrichtensendung des BR, die in Tote brauchen keine Wohnung einleitend überblendet auf inszenierte Bilder davon, wie Plakate und Transparente mit Aufschriften wie „Mehr Wohnräume statt Büroräume“ weggekehrt werden. Doch der Protest ist vergebens. Damit setzt Regisseur Wolfgang Staudte (Freiwild) die Stimmung und das Resümee des Films schon ganz am Anfang: Alteingesessene Mieter sollen aus ihrem Viertel und ihren preiswerten Wohnungen vertrieben werden.
Im Mittelpunkt der Gentrifizierung steht ein Haus, das dem einleitend erwähnten Vermieter gehört: Der Unsympath Pröpper versucht seine Wohnungen mit Versprechungen und Schikanen leer zu bekommen. Im Wirtshaus von Ex-Sportstar Rudi (Arthur Brauss, Saarbrücken, an einem Montag …) und Mutti Mandl (Maria Singer, Riedmüller, Vorname Sigi) wird der Heizkessel in seinem Auftrag durch den aus Bremen entlassenen Strafgefangenen Josef Bacher (Andreas Seyfarth, Himmelfahrt) zerstört, Wände werden aufgerissen und mehr.
Als Bachers Zimmerwirtin, Frau Altmann (Herta Worell, Himmel und Erde), vergiftet aufgefunden wird, gerät Bacher bei Kriminaloberinspektor Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) unter Verdacht. Der Verstorbenen hatte Pröpper als Gegenleistung für das Verlassen ihrer Bleibe eine moderne Zwei-Zimmer-Wohnung in Aussicht gestellt, die sie mit Opa Hallbaum (Wilhelm Zeno Diemer, Augenzeuge) beziehen wollte. Bei ihm wohnt auch Enkel Jürgen (Robert Seidl), der dann bei seiner Mutter (Elisabeth Karg, 3:0 für Veigl) hätte leben sollen. Bei einer Versammlung in der Kneipe der Mandls hagelt es Schuldvorwürfe – und die anderen Mieter bemühen sich, persönliche Zukunftsperspektiven zu entwerfen.
Inzwischen hat Veigl Kenntnis davon bekommen, dass in einem Bremer Sanierungsgebiet ebenfalls eine alte Frau vergiftet wurde. Die Spur, die Kommissar Walter Böck (Hans Häckermann, Ein ganz gewöhnlicher Mord) verfolgt, erweist sich allerdings als falsch und dient in diesem Krimi allein dazu, den damals obligatorischen Auftritt eines Gastkommissars einzubinden (im Drehbuch war für diese Szenen eigentlich der Hamburger Tatort-Kommissar Paul Trimmel vorgesehen).
Ansonsten prägt den 34. Tatort eine nachdenkliche Bedächtigkeit. Viele konstitutive Elemente der Münchner Folgen sind merklich zurückgenommen: Kriminalmeister Josef Brettschneider (Willy Harlander), der sonst ganz wesentlich die Leichtigkeit der Veigl-Filme trägt, agiert sehr zurückhaltend. Auch Kriminalobermeister Ludwig Lenz (Helmut Fischer) spielt sich nicht in den Vordergrund. Dackel Oswald, treuer Begleiter des Kommissars, ist nur Teil der Dekoration, und Kriminalrat Härtinger (Hans Baur) reduziert auf die Rolle desjenigen, der wenig Aufsehen und eine schnelle Lösung erwartet. Nicht einmal spitzzüngige Diskussionen mit dem Oberinspektor gibt es in diesem Fall.
Der BR geht mit Tote brauchen keine Wohnung konsequent den Weg weiter, den er bereits mit Weißblaue Turnschuhe eingeschlagen hatte. War es dort das „arme Muatterl“, ist es hier ein ganzes kleinbürgerliches Viertel, dem sich Veigl liebevoll nähert. Insofern ist dieser – in der Drehreihenfolge – vierte Münchner Tatort nur in zweiter Linie ein Krimi. Zu allererst ist er eine Milieustudie, in der das Drehbuch von Michael Molsner die Wohnbedingungen beleuchtet. Dazu kommt die stark autobiografisch bestimmte Geschichte des Jürgen Hallbaum: Hier verarbeitet Molsner seine Erlebnisse des Wechsels von einem liebevollen Zuhause beim Großvater in der Kleinstadt Aalen in die Künstlerszene Münchens, in der seine Mutter zu Hause ist. Im bindungslosen und vorbestraften Josef Bacher ist sein Halbbruder nachgebildet.
Wolfgang Staudte setzt das vom Bayerischen Rundfunk bei Molsner in Auftrag gegebene Drehbuch zusammen mit dem später weltberühmten Kameramann Michael Ballhaus detailliert um; allein die eingangs erwähnte Anfangsszene ergänzt er mit den Aufnahmen einer Kehrmaschine. Nach dem Rohschnitt macht der BR allerdings „Schnittvorschläge“, die Staudte konsequent ablehnt. Letztlich bleibt der Film, wie er ist, um dann nach seinem fast zwei Jahrzehnte dauernden Giftschrank-Dasein und einem Intendantenwechsel endlich die ihm gebührende Würdigung zu erfahren.
Bewertung: 9/10
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