Folge 562
4. April 2004
Sender: Radio Bremen
Regie: Thorsten Näter
Drehbuch: Thorsten Näter
So war der Tatort:
Höllisch.
Die Leiche eines zwölfjährigen Mädchens, das von einem Hochhaus in den Tod gesprungen ist, weist eindeutige Spuren sexuellen Missbrauchs auf. Außerdem hatte das Kind eine rätselhafte Tätowierung auf der Hand.
Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) sind bestürzt: Die Eltern des Mädchens, Bodo (Michael Lott, Im Abseits) und Sigrid Meinfeld (Martina Schiesser, Verlorene Töchter), geben sich wortkarg und ausflüchtig – und damit hochverdächtig. So rücken auch die ebenfalls auffälligen jüngeren Geschwister des toten Mädchens, Svenja (Luisa Sappelt) und Björn Meinfeld (Philip Stölken), in den Fokus der Ermittlungen, doch Kinderarzt und Lehrerin wiegeln ab: keine Auffälligkeiten und keine belastbaren Indizien, um schnell zu handeln.
Zum Glück gibt es in der Plattenbausiedlung, in der die Familie lebt, noch ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung, in dem Lürsens Tochter Helen (Camilla Renschke) als Betreuerin aushilft: Das Heim fungiert zum einen als Blitzableiter für die besorgten Bürger aus der Nachbarschaft und ist zum anderen der heimliche Rückzugsort für Svenja. Bald hat der Mob einen Schuldigen auserkoren: den vermeintlich stummen Ex-Soldaten Harald Markwart (Hans-Uwe Bauer, Heimspiel). Unterschicht gegen Abschaum.
Das Umfeld der Familie hingegen scheint bewusst zu schweigen, und so beschleicht die Ermittler ein ungutes Gefühl: Haben sie es mit einem Netzwerk zu tun? Während Lürsen ungeduldig wird und sich im Zorn dazu hinreißen lässt, den süffisanten Oberstaatsanwalt Mertens (Christoph Bantzer) am Schlafittchen zu packen, sucht der besonnenere Stedefreund nach der Bedeutung des kryptischen Zeichens. Von der stark verängstigten Bibliothekarin Karin Melzer (grandios: die 2009 verstorbene Monica Bleibtreu, Der Passagier) erfährt er ungeheuerliche Details über Netzwerke von Pädophilen, die sich als satanistische Zirkel tarnen und Verbrechen jenseits der Vorstellungskraft verüben.
Ritueller Missbrauch und Menschenopfer mitten in Bremen – zu bizarr, um wahr zu sein?
Abschaum ist bis heute der beste Tatort aus Bremen geblieben, denn er zeigt Missbrauch als machtvolles System, das auf dem erzwungenen Schweigen der Opfer fußt: Die Taten der Satanisten sind so grausam, dass den Opfern niemand glaubt. Während die anderen Figuren in quälender Sprachlosigkeit verharren, geraten die Ermittler immer stärker unter Druck.
Trotz der brisanten Thematik tappt Regisseur und Drehbuchautor Thorsten Näter (Kalte Wut) in kein Fettnäpfchen und keine Klischeefalle. Die knallharten Gewaltszenen deutet er nur auf Zeichnungen oder in verzerrten Flashbacks der jungen Opfer an. Reduzierte Dialoge und Gesten lassen viel Raum für die Entfaltung der bedrohlichen Atmosphäre, in der auch die Kinder anmuten wie Untote: bleich, ohne Mimik, stumm. Und wenn der wütende Mob mit aller Macht die Behinderteneinrichtung stürmen will, kommt man sich fast vor wie in einem Zombiefilm.
Mutti Lürsen bemüht sich derweil redlich um eine Beziehung zu der traumatisierten Svenja, die in einem anderen Universum festzustecken scheint. Mit großer schauspielerischer Leistung lässt die hochtalentierte Jungdarstellerin Luisa Sappelt allein mit schnellem Atem und starrem Blick das Ausmaß der grauenvollen Situation erahnen – es sind Szenen zum Wegsehen. Das Wiederfinden der Sprache wird schließlich zur Zerreißprobe im 562. Tatort: Als Melzer sich passenderweise mit Worten von Paul Celan verabschiedet, nimmt die Handlung Fahrt auf.
Abschaum, dem die Dokumentationen Höllenleben von Liz Wieskerstrauch als Vorlage dienten, bietet einen kinoreifen Einblick in ein bis dahin in den Medien kaum verhandeltes Thema, wenngleich der Showdown mit Selbstjustiz und 14 Toten einigen zu viel war: Neben CSU-Politiker Peter Gauweiler („Skandal“) monierten 2004 auch Polizeiruf 110-Kollege Jaecki Schwarz („grauslich und nicht notwendig“) und Tatort-Ermittler Jan Josef Liefers („blutrünstiges Zeug“) den blutigen Ausgang des Krimis und entfachten so eine Debatte über Altersfreigaben und Gewaltdarstellungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Die stark verfremdeten Schlussszenen wirken emotional jedoch kaum so belastend wie der Missbrauch. Anerkennung für dessen realistische Darstellung gab es von Sektenbeauftragten und Betroffenen. Für uns ist dieser Tatort nicht leicht zu ertragen, und er ist trotzdem – oder gerade deswegen – ein Meilenstein in der Geschichte der Krimireihe. Zurecht zeigte sich auch Hans-Dieter Heimendahl, der damalige Programmdirektor von Radio Bremen, von der Kritik unbeeindruckt: Man habe „nicht nur einen spannenden Krimi produziert, sondern ein gesellschaftlich wichtiges Thema angesprochen.“
Word.
Bewertung: 10/10
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