Folge: 574 | 10. Oktober 2004 | Sender: NDR | Regie: Claudia Garde
Bild: NDR/Marlies Henke |
So war der Tatort:
Thanatologisch.
Inspiriert von der griechischen Mythologie, bekommt es Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) bei seinem dritten Einsatz für die Krimireihe nämlich mit einem ebenso außergewöhnlichen wie ebenbürtigem Serienmörder zu tun. Dessen kryptisch anmutende Taten erfordern erneut die Unterstützung von Polizeipsychologin Frieda Jung (Maren Eggert), verlangen aber auch dem namenlosen und nur in dieser einen Folge auftretenden Kieler Rechtsmediziner (Robert Meller, Der König der Gosse) sein ganzes Können ab.
Bereits der Auftakt der 574. Tatort-Folge gestaltet sich für ihn und uns ziemlich rätselhaft: Eine Gruppe von Musikschülerinnen findet beim Betreten eines Konzertsaals gemeinsam mit ihrer Lehrerin die Leiche eines Mädchens, das festlich gekleidet an einem schwarzen Flügel sitzt. Zunächst scheint niemand die Tote zu kennen – und auch der erwähnte Pathologe wird nicht so recht schlau aus ihr.
BOROWSKI:Und?RECHTSMEDIZINER:Keine Ahnung. Keine Spuren äußerer Gewaltanwendung. Keine charakteristischen Krankheitssymptome. Kein klarer Hinweis auf eine Intoxikation. Keine Ahnung.BOROWSKI:
Zeitpunkt des Todes?RECHTSMEDIZINER:
Keine Ahnung.
Der ungeduldige Borowski, dem im 574. Tatort erneut der stets bemühte, aber ungeschickt agierende Oberkommissar Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh) zur Seite steht, ist dennoch bald im Bilde: Thanatopraxie – abgeleitet von Thanatos, dem Gott des sanften Todes – ist die ästhetisch und hygienisch einwandfreie Aufbahrung von Verstorbenen. Will heißen: Die Tote wurde einbalsamiert. Und sie bleibt nicht die einzige. Doch wer tut so etwas – und warum?
Das Drehbuch von Orkun Ertener, der bereits beim Borowski-Erstling Väter federführend war, sieht vor, dass wir von Beginn an um das „wer“ wissen. Dieses Konzept, das in den folgenden Jahren noch viele weitere Krimis von der Förde auszeichnet, erweist sich auch diesmal unter Regie von Claudia Garde (Borowski in der Unterwelt) als reizvoll. Das Handeln des umsichtig und strukturiert agiereden Stefan Gärtner (stark: Matthias Brandt, Absturz) ist uns stets präsent, ohne dass wir bezüglich seines Motivs einen Wissensvorsprung genießen. Wir sehen ihn als fürsorglichen Ehemann an der Seite seiner schwangeren Frau Andrea (Anna Thalbach, Absolute Diskretion), zum anderen bei der Vorbereitung seiner Taten. Was ihn antreibt, darüber lässt uns der als Whydunit startende Film, der sich auf der Zielgeraden zum Howcatchem wandelt, aber lange im Dunkeln.
Auch das Geschehen im Präsidium hat Einiges zu bieten – allem voran den diesmal nicht nur psychisch, sondern auch physisch angeschlagenen Borowski, dessen linker Arm schmerzt und dem sein Vorgesetzter Roland Schladitz (Thomas Kügel) den Urlaub mit Tochter Carla (Neelam Schlemminger, Sternenkinder) verwehrt. Das sorgt für dicke Luft und wunderbar knackige Dialoge. Die Vater-Tochter-Beziehung hingegen, die bereits in Väter ausführlich illustriert wurde, erfährt hier nur indirekt eine Fortsetzung, da die gerade eingetroffene Carla ihren verdutzten Papa einfach am Bahngleis stehen lässt und direkt wieder in den Zug nach Hause steigt. Eine bewegende Szene, die auch am nach außen meist so gefasst wirkenden Borowski nicht spurlos vorbeigeht.
Der Kieler Kriminalist raunzt Kollegen und Zeugen an, verliert die Beherrschung und lässt sich beim dramatischen Showdown am Containerhafen sogar zu einer waghalsigen und sicher nicht den Vorschriften entsprechenden Alles-oder-nichts-Aktion hinreißen. Der schwedische Kultkommissar Kurt Wallander lässt grüßen! Und selbst die sympathisch-offenherzige Altenpflegerin Iris (Solveig Arnarsdottir), die Borowski beim Seniorentänzchen befragt, vermag mit ihrem Charme das Herz des kauzigen Kommissars nicht zu erweichen. Beim naiven Zainalow hat es die Damenwelt leichter: Sein Techtelmechtel mit der attraktiven und (natürlich!) sensationslüsternen Klischee-Journalistin Anke Rudolf (Tamara Simunovic, Der schwarze Ritter) nervt gewaltig und knüpft damit nahtlos an seinen unglücklichen Auftritt im enttäuschenden Vorgänger Schichtwechsel an.
Stirb und werde, dessen Titel auf einen Vers aus Goethes Gedicht Selige Sehnsucht verweist, weiß da unterm Strich schon eher zu gefallen – auch wenn die Spannung lange Zeit spärlich dosiert ist und es an psychologischer Tiefe bezüglich des Täters mangelt. Insbesondere die wirkungsvollen Bilder, die authentischen Dialoge und der überzeugende Cast entschädigen dafür. Zur Besetzung zählt übrigens auch die zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung noch eher unbekannte Lavinia Wilson, die bei einem Kurzauftritt als Schwester des ersten Opfers zu sehen ist und sich an Borowskis Schulter ausweinen darf.
Apropos:
JUNG:Wie geht es Ihnen?BOROWSKI:Ich kann nicht klagen.JUNG:
Nein, können Sie nicht.
Bewertung: 6/10
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