Folge: 1105 | 20. Oktober 2019 | Sender: HR | Regie: Thomas Stuber
Bild: HR/Bettina Müller
|
So war der Tatort:
Stark angelehnt an John Carpenters Assault – Anschlag bei Nacht – doch dabei weit mehr als eine reine Neuauflage des US-Thrillers von 1976, der bereits 2005 mehr schlecht als recht neu verfilmt wurde.
Angriff auf Wache 08 ist vielmehr eine mit vielen filmischen Querverweisen gespickte Kreuzung aus originellem Retro-Remake und philosophisch angehauchter Neuinterpretation – ein typischer Tatort mit LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) eben, mit dem der für seine TV-Experimente berühmt-berüchtigte Hessische Rundfunk bereits im überragenden Vorgänger Murot und das Murmeltier einem populären Hollywood-Film die Ehre erwies.
Die Handlung im Nachfolger ist schnell umrissen, erfordert aber kein Vorwissen: Murot besucht wenige Stunden vor einer totalen Sonnenfinsternis ein Polizeimuseum an einer einsamen Landstraße bei Offenbach – die titelgebende Wache 08 dient heute vor allem dazu, desinteressierten Schulklassen zu demonstrieren, wie vor drei Jahrzehnten bei der Polizei gearbeitet wurde. Murots alter BKA-Kumpel Walter Brenner (Peter Kurth, Der höllische Heinz) schiebt dort Dienst mit seiner Kollegin Cynthia Roth (Christina Große, Das Monster von Kassel) und staunt nicht schlecht, als neben Murot auch noch die minderjährige Jenny Sibelius (Paula Hartmann) und die JVA-Schließer Jörg (Jörn Hentschel, Die robuste Roswita), Frank (Andreas Schröders, Der wüste Gobi) und Manfred (Sascha Nathan) mit sechs Gefangenen im Schlepptau Zuflucht suchen.
Binnen Minuten wird die einsame Wache von bis an die Zähne bewaffneten Gangstern umstellt, die es auf Jenny und ihre Beschützer abgesehen haben. Fertig ist der Mikrokosmos, aus dem es kein Entrinnen gibt.
MUROT:
Mein Handy ist draußen im Auto, da kommen wir nicht ran.
ROTH:
Und was ist mit euch?
FRANK:Fehlanzeige.JÖRG:Wir müssen die Handys bei Dienstbeginn abgeben.BRENNER:Ich hab nicht ‚mal E-Mail.
Regisseur und Drehbuchautor Thomas Stuber (Verbrannt), der das Skript zusammen mit Clemens Meyer geschrieben hat, orientiert sich vor allem in der ersten Filmhälfte eng am Vorbild von John Carpenter. Der Filmemacher taucht bereits seine Opening Credits in blutrote Schrift, während ein düsterer Score erklingt – das weckt sofort Erinnerungen ans Original.
Doch Stuber wärmt den Film aus den 70ern nicht nur auf – er spielt genüsslich mit den Erwartungen des Zuschauers und stellt entscheidende Weichen der Geschichte anders. So wird zwar (wie bei Carpenter) anfangs ein unschuldiger Eisverkäufer erschossen, doch darf seine junge Kundin im 1105. Tatort überleben – stattdessen stirbt ihr Vater, der das Unheil in Assault – Anschlag bei Nacht mit seiner Flucht auf die Wache heraufbeschwört und die köstlichste Szene des Films hier gar nicht mehr miterlebt.
Auch sonst finden sich in diesem mit vielen Split-Screens durchsetzten Tatort viele variierte Parallelen: Während das Einschwören der Gang auf den Feldzug oder der Blick der Kamera durchs Zielfernrohr fast 1:1 übernommen werden, ist es statt der Krankheit eines Gefangenen hier eine Reifenpanne, die den Transport zum Halt zwingt.
Das Pendant zum smarten Napoleon (Darwin Joston) aus Carpenters Film ist Hannibal Lecter-Verschnitt Rüdiger Kermann (Thomas Schmauser, Teufelskreis), der als „Kannibale von Peine“ allerdings nicht mit hessischen Tatort-Bösewichten wie Richard Harloff (Ulrich Matthes, Im Schmerz geboren) oder Arthur Steinmetz (Jens Harzer, Es lebe der Tod) mithalten kann.
An andere TV-Meisterwerke aus Wiesbaden – man denke auch an Das Dorf oder Wer bin ich? – reicht Murots achter Einsatz trotz der erstklassigen Inszenierung damit nicht ganz heran: Während der dialoglastigen Belagerung schleichen sich Längen ein und bei den Figuren fehlt mitunter die Schärfe. Der tolle Cast um Ulrich Tukur, Peter Kurth und Christina Große kann das nicht immer auffangen. Die Abstinenz von Murots Assistentin Magda Wächter (Barbara Philipp) wird erzählerisch hingegen elegant gelöst und verhilft dem früheren Erfurter Tatort-Kommissar Benjamin Kramme zu einem sympathischen Cameo-Auftritt.
Für Cineasten ist Angriff auf Wache 08 so oder so ein Vergnügen – tolle Anspielungen gibt es auf den Zombie-Klassiker Die Nacht der lebenden Toten, die Sci-Fi-Komödie Nr. 5 lebt! oder den Box-Office-Hit Good Morning, Vietnam. Der mit einem stimmungsvollen Soundtrack verstärkte Retro-Look hingegen erinnert stark an Falscher Hase, der sieben Wochen zuvor ausgestrahlt und ebenfalls vom HR produziert wurde.
Dazu passend streckt der Wiesbadener Dauergast Sascha Nathan (im Frankfurter Tatort oft als KTU Uhlich zu sehen) in seiner Rolle als Schließer das vielleicht schönste Maurerdekolleté in die Kamera, das es je im Tatort zu sehen gab.
Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort „Hüter der Schwelle“
Schreibe einen Kommentar