Folge: 1131 | 10. Mai 2020 | Sender: NDR | Regie: Hüseyin Tabak
Bild: NDR/Gordon Timpen |
So war der Tatort:
Drastisch-dramatisch.
Denn Borowski und der Fluch der weißen Möwe beginnt mit einem doppelten Paukenschlag, dessen Dramatik in der jüngeren Tatort-Geschichte ihresgleichen sucht: Die vier Polizeischüler Nasrin (Soma Pysall), Sandro (Louis Held), Leroy (Stefan „Sero“ Hergli) und Tobias (Enno Trebs, Damian) üben gerade das Fahren mit Blaulicht, als sie ein Notruf erreicht – doch das Leben der jungen Jule (Caro Cult), die sich alkoholisiert vom Dach eines Hochhauses stürzt, können sie nicht mehr retten.
Am nächsten Tag in der Polizeischule kommt es noch dicker: Vor den Augen der Kieler Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik), die dort ein Seminar leiten, sticht Nasrin bei einem Rollenspiel plötzlich Sandro nieder – der angehende Polizist verblutet vor Ort und lässt neben den Ermittlern auch zwei Dutzend Polizeischüler geschockt zurück. Was für drastische Bilder – was für ein Auftakt!
Die Täterfrage wird in Kiel – wir erinnern uns an Borowski und der stille Gast oder Borowski und das Glück der Anderen – einmal mehr nicht gestellt und es geht bei der Auflösung nicht um das Wer, sondern um das Warum. Auf dem Weg dorthin bedient sich Borowski unkonventioneller Methoden: Er bittet Nasrin zum Boxtraining und provoziert sie mit einem Wort, das bei der Polizeischülerin ein echter Trigger zu sein scheint.
BOROWSKI:
Na los! Zeig’s mir, du Ficki-Micki-Bitch!
Die Drehbuchautoren Eva Zahn und Volker A. Zahn, die in den vergangenen Jahren vier weitere Geschichten für die Krimireihe konzipierten (zuletzt Borowski und die Kinder von Gaarden), haben einen rätselhaft-reizvollen Fall geschrieben, den Regisseur und Tatort-Debütant Hüseyin Tabak stimmungsvoll in Szene setzt.
Ein Psychogramm der labilen Täterin verweigern sie aber: Obwohl Nasrin unter schlimmen Halluzinationen leidet und sich angeblich nicht an die Tötung Sandros erinnert, würdigen die Filmemacher ihre dissoziative Amnesie keines näheren Blickes. Sahin blättert zwar kurz in der Fachliteratur, doch ansonsten kommt statt einer ausgebildeten Psychologin irritierenderweise nur Rechtsmedizinerin Dr. Kroll (Anja Antonowicz) zu Wort, die sich praktischerweise auch noch aufs Lippenlesen versteht. So rückt vor allem Sahin bei ihrem vierten Einsatz an Borowskis Seite erstmalig in den Blickpunkt, weil das Drama in der Polizeischule auch auf ihr Konto geht und ihre Qualitäten als junge Ermittlerin in (zu) verantwortungsvoller Position infrage gestellt werden.
Auch sonst ergibt sich beim Blick auf die Nebenfiguren kein durchgehend überzeugendes Bild: Während die Filmemacher viel Zeit in die Gefühlswelt der Polizeischüler investieren, schenken sie Barkeeper Enrique (Sascha Weingarten) und Fahrlehrer Volkan (Sahin Eryilmaz, Böser Boden) wenig Beachtung. Weil die beiden im Hinblick auf die Vorgeschichte eine wichtige Rolle spielen, rächt sich das später – und das Drama entfaltet unterm Strich nicht die Wucht, die möglich gewesen wäre. Kida Khodr Ramadan (Tschiller: Off Duty) darf in seiner Rolle als aufbrausender Kioskbesitzer und trauernder Vater zwar mehr zeigen, doch so charismatisch wie seine Auftritte als Gangsterboss Toni Hamady ist seine Performance bei der Wiederbegegnung mit 4 Blocks-Kollegin Almila Bagriacik nicht.
Ansonsten hat man das Gefühl, dass die Filmemacher ihr Pulver etwas zu früh verschießen: Mit Blick auf die abflachende Spannungskurve ist der frühe Doppelschock bereits der Höhepunkt eines emotionalen Krimidramas, dem auf Dauer die Puste ausgeht – als sich der Nebel um die Hintergründe der Tat und das (mindestens zweimal zu viel zitierte) Wort „Ficki-Micki-Bitch“ lüftet, ist die Luft dann fast ganz raus. Erst in den Schlussminuten schaltet der Film wieder zwei Gänge hoch – und geht dann erfreulicherweise keine Kompromisse mehr ein.
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