Folge 1212
9. Oktober 2022
Sender: NDR
Regie: Stefan Krohmer
Drehbuch: Daniel Nocke
So war der Tatort:
Biogeographisch.
Bei ihrem 20-jährigen Dienstjubiläum bedient sich Ex-LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) bei der Fahndung nach dem Mörder einer Joggerin nämlich einer Methode, die der Kripo hierzulande gar nicht erlaubt ist: Sie lässt über Rechtsmediziner Nick Schmitz (Daniel Donskoy) bei den Kollegen der niederländischen Polizei basierend auf am Tatort gefundenen Spuren des Täters eine DNA-Herkunftsanalyse erstellen. Und die verortet die biologischen Wurzeln des Mörders im Nahen Osten oder in Nordafrika.
Die schwierige Debatte, ob diese Methode auch in Deutschland sinnvoll wäre, wird in diesem Krimi recht differenziert vorgetragen – zu einem echten Ergebnis führt sie aber nicht. Kann sie in der Kürze der Zeit vielleicht auch gar nicht. Die Wortgefechte über die Vor- und Nachteile des Verfahrens scheinen aber ohnehin eher dazu zu dienen, mal wieder einen Konflikt zwischen Lindholm und Kollegin Anais Schmitz (Florence Kasumba) vom Zaun zu brechen: Drehbuchautor Daniel Nocke (Borowski und die Angst der weißen Männer), der zum ersten Mal für den Göttinger Tatort am Ruder sitzt, ist offenbar kein Freund von Harmonie im Präsidium unter Leitung von Gert Liebig (Luc Veit).
Einer ist durch das Testergebnis jedenfalls aus dem Schneider: der Serientriebtäter „Der Wikinger“ (Mirco Kreibich, Borowski und das dunkle Netz), der nachweislich europäischer Herkunft ist, und der sich irgendwie in die erste Hälfte dieser unrunden Tatort-Folge verirrt hat. Schon die offizielle Inhaltsangabe der ARD spottet nämlich dem, was im Film in Wahrheit zu sehen ist: „Die heile Welt von Göttingen wird erschüttert durch einen Serientriebtäter, der an abgelegenen Ecken Frauen auflauert und zu sexuellen Handlungen zwingt“, heißt es da. Dabei ist die Welt von Göttingen weder heile, noch wirkt in diesem Krimi irgendjemand ernsthaft erschüttert.
Sieht man von zwei kurzen Begegnungen mit seinen Opfern und einer kurzen Befragung ab, kommt „Der Wikinger“ praktisch gar nicht vor – es scheint einfach ein deutscher Verdächtiger herzumüssen, um die DNA-Analyse zu rechtfertigen. Das wirkt in einem Tatort, der ohnehin schon Themen für drei eigene Krimis anreißt, gleich doppelt dünn. Denn es wollen auch Gespräche über „Flüchtlingsfolklore“, fußballspielende Geflüchtete, studierende Geflüchtete und geflüchtete Arschlöcher geführt werden – etwa dann, wenn Lindholm bei Jelena (Mala Emde, Borowski und das verlorene Mädchen) aufschlägt, der Mitbewohnerin der Getöteten.
Nach der Krise von 2015 gab es in den Jahren danach gleich reihenweise Tatort-Folgen mit und über Geflüchtete(n) – etwa den Kölner Tatort Wacht am Rhein, den Stuttgarter Tatort Im gelobten Land oder den Franken-Tatort Am Ende geht man nackt. Die Filmemacher begaben sich darin oft aufs Glatteis, weil sie mit ihren Drehbüchern eigentlich nur verlieren können: Einen Tatort-Mord von einem Menschen mit Fluchthintergrund begehen zu lassen, schürt zusätzliche Ängste und Vorurteile – Geflüchtete ständig ins Ensemble der Verdächtigen aufzunehmen, aber stets Deutsche die Morde begehen zu lassen, verzerrt auf Dauer allerdings auch die Realität.
Das überraschende Ende ist daher zweifellos die größte Stärke der 1212. Tatort-Ausgabe: Die Auflösung ist schwer zu erraten, weil sie mit den üblichen Tatort-Konventionen bricht, eine falsche Fährte sich glaubwürdig liest und das DNA-Material eine klare Sprache spricht. Eine echte Chance bei der Tätersuche haben wir allerdings nicht, da wir über mögliche Motive, die Geschichte und den Menschen hinter dem Mörder so gut wie nichts erfahren. Wer sich vor der Kamera nicht verdächtig machen kann, den können wir auch nur schwer erraten.
Was Die Rache an der Welt unter Regie von Stefan Krohmer neben den zu lang geratenen politischen Kontroversen zu einem eher mittelprächtigen Tatort macht, ist aber vor allem die flache Spannungskurve: Nach einer reizvollen Auftaktminute verabschiedet sich der Film für lange Zeit in eine spannungsfreie Aneinanderreihung hitziger Rassismusdebatten, tapferen Refugees-Welcome-Botschaften und biederen Zwischenfazits bei der Tätersuche. Erst auf der Zielgeraden nimmt das Geschehen an Fahrt auf – direkt danach ist der Tatort aber auch schon vorbei.
Auch für das zähe Weltrekord-Fußballspiel der Geflüchteten, das tagelang unter Leitung des aufbrausenden Fußballtrainers Henry (Sascha Alexander Gersak, Gier und Angst) und praktisch in Zeitlupe ausgespielt wird, nehmen sich die Filmemacher viel Zeit. Viel interessanter als die ewigen Sportplatz-Aufnahmen wäre vielleicht ein gezielteres Entlarven des Ehepaars Kaul (Jogi Kaiser und Michaela Hanser) gewesen, das unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft reihenweise Geflüchtete einquartiert, um sich von deren Foltergeschichten unterhalten zu lassen.
Bewertung: 5/10
Schreibe einen Kommentar