Folge 1293
16. Februar 2025
Sender: rbb
Regie: Mark Monheim
Drehbuch: Thomas André Szabó
So war der Tatort:
Afghanistanfixiert.
Drehbuchautor Thomas André Szabó richtet den Scheinwerfer in seinem hochspannenden Tatort-Debüt nämlich auf den Sommer 2021: Weil die NATO (und damit auch die deutsche Bundeswehr) ihre Truppen überhastet und schlecht vorbereitet aus Afghanistan abzog, spielten sich am Flughafen von Kabul dramatische Szenen ab. Menschen, die Angst vor der erneuten Machtübernahme der Taliban, dem Tod oder Folter hatten, klammerten sich verzweifelt an startende Flugzeuge. Tausende Ortskräfte, die mit den westlichen Ländern zusammengearbeitet hatten, blieben im Land zurück und halten sich teilweise noch immer ohne Sicherheitsmaßnahmen dort auf. Ein „völliges Desaster monumentalen Ausmaßes“, nannte das später der US-amerikanische Kongressabgeordnete Michael McCaul.
Während hierzulande kein einziger politischer Kopf für diese Tragödie mit deutscher Beteiligung rollte, entführen uns die Filmschaffenden eine Woche vor der Bundestagswahl 2025 ins politische Berlin. Und wählen einen Auftakt, der an einen Hauptstadt-Tatort von 2020 erinnert: Während in Das perfekte Verbrechen ein Scharfschütze auf dem Gendarmenmarkt eine junge Studentin eliminierte, segnet in Vier Leben ein Politiker vorm Bahnhof Friedrichsstraße durch einen Sniper das Zeitliche. Die Karriere des ambitionierten Sozialdemokraten Jürgen Weghorst (Philipp Lind) war zwar durch einen Bestechungsskandal ins Stocken geraten, nun stand er aber vor seinem Comeback, weil er bereit dazu war, reinen Tisch zu machen. Auch Weghorst war 2021 in Kabul gewesen und dem Chaos dank Vitamin B in letzter Sekunde entkommen.
Nach dem noch recht konventionell arrangierten Auftakt und den ersten Erkenntnissen von SpuSi-Kollegin Nancy Bauer (zum dritten Mal in dieser Rolle dabei: Johanna Polley) beschleunigt sich der zunächst sehr dialoglastige Film schon bald zu einer atemberaubenden Hetzjagd durch die Hauptstadt: Die mit dem LKA vorübergehend in den stillgelegten Flughafen Berlin-Tegel umgezogenen Hauptkommissare Robert Karow (Mark Waschke) und Susanne Bonard (Corinna Harfouch) ahnen schnell, dass Weghorst nicht das letzte Opfer bleibt. Nach 40 Filmminuten folgt eine zweite, bald eine dritte Leiche. Und es soll nicht die letzte bleiben: Der Täter ist fest entschlossen, für das Afghanistan-Desaster persönliche Rache und Vier Leben zu nehmen.
Um wen es sich bei diesem Täter handelt, daraus machen die Filmschaffenden im 1293. Tatort nur eine knappe Stunde lang ein Geheimnis. Vier Leben ist kein klassischer Whodunit, sondern erzählt in einem Zeitraum von unter 14 Stunden die fiebrige Fahndung nach einem erstklassig ausgebildeten Elitesoldaten, der selbst unter dem Truppenabzug litt und den Kriminalisten stets zwei Züge voraus ist. Ähnlich wie im vier Wochen zuvor ausgestrahlten Stuttgarter Tatort Verblendung hält die Echtzeit-Atmosphäre des Howcatchem dabei keinem Realitätsabgleich stand: In Berlin sind die Wege bekanntlich noch weiter als in Stuttgart, dennoch bekommen Karow und Bonard mit Unterstützung ihres Assistenten Malik Aslan (Tan Caglar) erstaunlich viele Ortstermine in der ganzen Stadt gewuppt.
Unter erstklassiger Regie von Mark Monheim, der ebenfalls sein Debüt für die Krimireihe gibt, kommen die Kriminalisten dabei fast immer den entscheidenden Schritt zu spät. Sie sind live dabei, wenn auf einem schicken Businesslunch die Sniperkugel durch die Glasscheibe fetzt und das zweite Opfer seinen letzten Atemzug aushaucht. Sie hetzen durchs Regierungsviertel und klettern auf Baugerüste, besuchen edle Villengegenden und schleichen versiffte Treppenhäuser hinauf. Und es reißt unheimlich mit, ihrer rastlosen Jagd zuzusehen. Ähnlich wie im Erstling der beiden, der Doppelfolge Nichts als die Wahrheit (1) und Nichts als die Wahrheit (2), gipfelt das Geschehen spektakulär am Potsdamer Platz – diesmal aber unterirdisch.
Vier Leben sendet dabei eine unmissverständliche Botschaft: Der Abzug aus Afghanistan wurde mangelhaft aufgearbeitet – und obwohl es schon viele gefährdete Afghaninnen und Afghanen aus dem Land geschafft haben, gibt es noch immer Menschen, die verzweifelt darauf warten, den von den Taliban regierten Staat verlassen zu können. Sprachrohr für diese Schicksale ist in diesem Tatort die geflohene Soraya Barakzay (Pegah Ferydoni, Angst im Dunkeln), die selbst hätte ausfliegen sollen und auf grausamste Weise ihre Kinder verlor. Das macht sie zur Schlüsselfigur dieses Politthrillers, der – so macht eine entsprechende Einblendung deutlich – an wahre Begebenheiten angelehnt ist. Schuldige benennt der packende Krimi allerdings nicht, auch ein echter Aha-Effekt bleibt aus.
Bei seinem vierten gemeinsamen Auftritt steht das Tatort-Duo Karow und Bonard dennoch im klaren Zenit seines Schaffens: Vier Leben ist als vor allem in der zweiten Hälfte jederzeit mitreißender, rasanter Politthriller der mit Abstand stärkste Fall der beiden und kann in dieser Form wohl auch nur an der Spree erzählt werden. „Im Vergleich zu einem Mord aus Eifersucht hat das politische Berlin natürlich eine ganz andere Wucht und Auffächerung, auch an Persönlichkeiten“, beschrieb Hauptdarsteller Mark Waschke das jüngst in unserem Interview. Davon darf es gerne mehr sein – wenngleich die Tage des Duos bereits gezählt sind.
Bewertung: 8/10
Nachgefragt: Mark Waschke in unserem Tatort-Interview
Drehspiegel: So geht’s nun im Berliner Tatort weiter
Ausblick: Neue Tatort-Folgen erst wieder im März
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