Folge 1321
26. Dezember 2025
Sender: BR
Regie: Andreas Kleinert
Drehbuch: Holger Joos, Norbert Baumgarten
So war der Tatort:
Theatralisch.
Ihr 98. Fall führt die kurz vorm Ruhestand stehenden Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) sowie Oberkommissar Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) nämlich ins altehrwürdige Münchner Theaterhaus. Und dort regiert die Theatralik auch dann, wenn der Vorhang gefallen und die Scheinwerfer erloschen sind. Vor den Augen des schockierten Publikums bricht bei der Aufführung von Anton Tschechows Drama „Die Möwe“ die Hauptdarstellerin auf offener Bühne tot zusammen – vergiftet mit einer Überdosis Tilidin. Die war in eine mit Traubensaft gefüllte Weinflasche gemischt worden.
Für Batic und Leitmayr ist der Gang ins Theater nicht ihr erster: Bereits im schwachen Tatort Aida von 1996 ermittelten die altgedienten Kriminalisten, die 2026 letztmalig für die Krimireihe auf Mörderfang gehen, in der schrillen Theaterwelt und trafen während der Proben zu Giuseppe Verdis titelgebendem Bühnenstück auf exzentrische Zeitgenossen, die sich nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnten. In Das Verlangen, der am 2. Weihnachtstag 2025 erstmalig auf Sendung geht, ist das genauso: Unter den Schauspielenden herrschen blanker Neid und pure Missgunst. Man neidet sich Rollen und Rampenlicht, schikaniert sich und spricht sich die Klasse ab – und natürlich spielen auch Liebschaften im Ensemble keine unwichtige Rolle bei der Frage, wer die psychisch labile Actrice Nora Nielsen (Giulia Goldammer, Die ewige Welle) auf dem Gewissen hat.
Das Drehbuchautorenduo Holger Joos (Unklare Lage) und Norbert Baumgarten, der sein Tatort-Debüt gibt, hat Batic und Leitmayr für ihren vor- bzw. drittletzten Einsatz (ihr letzter Tatort Unvergänglich ist eine Doppelfolge) einen Whodunit geschrieben, wie er konventioneller kaum arrangiert sein könnte: Da gibt es einen rätselhaften Todesfall zum Auftakt, ein halbes Dutzend Tatverdächtige mit hinreichendem Mordmotiv und eine von der Außenwelt abgeschottete Welt, die niemand verlässt und in die niemand nachträglich eindringt. Sämtliche Figuren in diesem Krimi, die nicht zur Polizei zählen, definieren sich allein über ihre Funktion und ihr Standing am Theater. Ihr Privatleben bleibt nahezu vollständig außen vor.
Dieser beliebte Agatha-Christie-Stil wurde wenige Wochen zuvor bereits im klischeelastigen Lindholm-Tatort Letzte Ernte und im grandiosen Münchner Weihnachtstatort Mord unter Misteln von 2022 zelebriert – und er gipfelt auch im Weihnachtstatort 2025 in einer finalen Versammlung aller möglichen Mörderinnen und Mörder auf der Bühne. Bis Batic und Leitmayr ihre feierliche Präsentation von Tathergang, Tat und Täter halten, gehen sie im laufenden Kulturbetrieb auf Spurensuche und dürfen dabei nicht nur Theaterklischees auf die Schippe nehmen, sondern auch sich selbst humorvoll den Spiegel vorhalten. Das Verlangen ist gespickt mit Anspielungen auf das Haifischbecken Schauspielbranche und das nahende Ende ihrer eigenen Tatort-Ära.
Gleichzeitig ist der 1321. Tatort durch sein ausgefallenes, räumlich begrenztes Setting ein äußerst dialoglastiges Kammerspiel: Das Präsidium besuchen die Kommissare diesmal nicht, alles findet im oder um das Theaterhaus herum statt. Da fällt die so gar nicht zu Weihnachten passende Jahreszeit dieses Sommerkrimis kaum ins Gewicht: Von wenigen Außenaufnahmen auf einer Terrasse oder vorm Gebäude abgesehen, könnte Das Verlangen genauso gut im Winter spielen. Ansonsten verraten vor allem die Outfits der Figuren, dass draußen die Sonne brennt. Parallel zum hitzigen Geschehen der Gegenwart montieren die Filmschaffenden um Regisseur Andreas Kleinert (Lass sie gehen) viele Rückblicke und ein Drama aus der Vergangenheit, das per Prolog vorweggenommen wird: Nora Nielsen war nicht die erste Frau, die auf der Bühne starb.
Die Suche nach der richtigen Auflösung gestaltet sich dabei ähnlich knifflig wie bei klug gebauten, doppelbödigen und nach wie vor unheimlich beliebten Miträtsel-Krimis im Knives-Out-Stil: Das Theaterensemble um Gina Rohland (Ursina Lardi, Trotzdem), Johannes Lange (Robert Kuchenbuch, Überlebe wenigstens bis morgen), Carl Silberman (Lukas Sperber) und Stella Papst (Luzia Oppermann) kommt ebenso ernsthaft als Mörderin und Mörder infrage wie die auf die Fortsetzung des Stücks pochende Intendantin Freya von Kaltenberg (Anna Stieblich, Mike & Nisha), der (natürlich) schwule Regisseur Akim Birol (Thiemo Strutzenberger) oder die undurchsichtige Garderobiere Ria Jäger (Liliane Amuat) und Inspizientin Lara Frost (Stephanie Schönfeld).
Batic und Leitmayr navigieren sich in diesem formelhaften, aber nie langweiligen Krimi routiniert durchs Geschehen. Sie hören zu und halten aus, sie vermuten und verwerfen Theorien wieder. Aber sie lassen sich durch die Eskapaden und Lügengeschichten hinter den Kulissen der Theaterwelt nie aus der Ruhe bringen. Wir wissen, dass sie die Täterfrage auch in diesem Tatort mit über 30 Jahren Diensterfahrung klären, und sie selbst scheinen das auch zu keinem Zeitpunkt zu bezweifeln. Ihren Kollegen und Nachfolger Kalli Hammermann, der nach ihrem Abschied einen neuen Partner bekommt, lassen sie buchstäblich die Drecksarbeit in der Mülltonne verrichten. Und wissen doch immer um seinen Wert.
Bewertung: 6/10
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