Folge: 595 | 17. April 2005 | Sender: HR | Regie: Lars Kraume
Bild: HR/Bettina Müller |
So war der Tatort:
Frei von Fromm – aber nicht ganz frei von Schwächen.
Abteilungsleiter Rudi Fromm (Peter Lerchbaumer) befindet sich im 50. Tatort des Hessischen Rundfunks nämlich in der Reha und hat Hauptkommissar Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) zu seinem Stellvertreter auserkoren. Und so dauert es nur wenige Minuten, bis Dellwo zum ersten Mal mit dem ungeduldigen Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) aneinanderrasselt: Dem geht mal wieder alles zu langsam, während Dellwo keine Lust auf Rechtfertigungen hat. Zu diesem frühen Zeitpunkt fährt der ansonsten angenehm gegen den Strich arrangierte Krimi vorübergehend auf Autopilot: Standardszenen wie diese hat man nicht nur im Frankfurter Tatort schon zur Genüge gesehen.
Das langweilt. Doch ansonsten löst sich der zweite Tatort von Regisseur und Drehbuchautor Lars Kraume (Sag nichts) schnell aus dem üblichen Korsett der Sonntagskrimis und stellt schon im Filmtitel die Frage, um die sich alles dreht: Wo ist Max Gravert?
Wir hingegen stellen uns zunächst eine ähnliche Frage, die nach gut zehn Minuten beantwortet wird: Wer ist Max Gravert überhaupt? Nachdem Peter Roth (Rüdiger Klink, Der Tote im Nachtzug) nachts überfallen wurde, bittet er auf dem Revier um Polizeischutz: Beim Wirtschaftsdezernatsbeamten Wittich (Karl Kranzkowski, Mörderspiele), den Dellwos Kollegin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) von früher kennt, stößt er jedoch auf taube Ohren und liegt am nächsten Morgen erschossen auf der Straße. Roth war in einen moralisch fragwürdigen Zweithandel mit Lebensversicherungen verwickelt, mit dessen Millionenerträgen sich sein vielgesuchter Kollege Max Gravert aus dem Staub gemacht hat.
Was als klassischer Whodunit beginnt, wandelt sich zum spannenden Genremix aus klassischem Krimi, fiebrigem Gangsterthriller und berührendem Krebsdrama. Als Täter infrage kommen nur zwei Personen, die wir bei ihren Streifzügen auch in Abstinenz der Kommissare begleiten dürfen: Die krebskranken Roman Mielcke (Jürgen Vogel, Der wüste Gobi) und Tom Novak (Tom Schilling, Auskreuzung) haben nur noch Monate zu leben und wurden von Gravert um ihr Geld gebracht. Nun gehen sie über Leichen, um den Flüchtigen aufzuspüren. Die beiden haben nichts mehr zu verlieren, aber eine letzte Rechnung offen.
MIELCKE:
Ich fühle mich wie früher in der Schule, wenn man schon Monate vorher wusste, dass man sitzen bleibt. Und alle anderen noch fleißig lernen und ihre Arbeiten schreiben. So fühle ich mich. Wie einer, der nicht mehr mitkommt.SÄNGER:
Aber dafür kann Max Gravert doch nichts.
MIELCKE:
Nee. Aber er hätte mir auch nicht mein Taschengeld klauen müssen.
Die Jagd auf Mielcke und Nowak, die in einen fiebrigen Maisfeld-Showdown mündet, ist die größte Stärke des Krimis und dabei angenehm vielschichtig erzählt: Trotz ihres brutalen Vorgehens sind Mielcke und Novak keine typischen Bösewichte, die das TV-Publikum mit blutigen Taten gegen sich aufbringen. Vielmehr weckt ihre Verzweiflung Verständnis für ihr Verhalten. Auch der gesuchte Max Gravert ist nicht der gierige Scharlatan, der er einleitend zu sein scheint: Er wollte die gestohlenen Millionen nicht etwa für sich, sondern zur Rettung der Firma seines Bruders Ulf Gravert (der spätere Polizeiruf-110-Kommissar Matthias Matschke in einer Doppelrolle).
Dass Graverts Pharma-Unternehmen pikanterweise in der Krebsforschung tätig ist, rundet das Bild tragisch ab: Die Filmemacher setzen nicht auf dünne Schwarz-Weiß-Malerei und einen simplen Konflikt zwischen geprellten Opfern und skrupellosen Geschäftemachern, sondern arbeiten die Grautöne mit feinem Gespür heraus. Auch die krebskranke Julia Steiner (stark: Bernadette Heerwagen, Sonne und Sturm), die Dellwo in seinem neuen Haus auf dem Land besucht, ist nicht die durch und durch sympathische Zeitgenossin, für die wir sie anfangs halten mögen. Mit Kopftuch auf dem schütteren Haar fliegt ihr unser Mitleid förmlich zu, wenn sie mit Dellwo Led-Zeppelin-Songs zelebriert und ihm beklemmende Einblicke in ihr Seelenleben gestattet – bis sie Absichten offenbart, die Sprengstoff bergen.
Auch zwischen Dellwo und Sänger kracht es im 595. Tatort mehrfach, wenngleich die Filmemacher den von Misstrauen geprägten Konflikt (noch) nicht auf die Spitze treiben: Wo ist Max Gravert? ist sehr auf Dellwo fixiert und landet mit Blick auf Frankfurter Hochkaräter wie Herzversagen oder Weil sie böse sind im oberen Mittelfeld dieses Teams. Die Streitereien der Ermittler werden am Rande erzählt. Charlotte Sänger, sonst oft das emotionale Epizentrum in Mainhattan, erhält erst auf der Zielgeraden des Krimis größeren Entfaltungsspielraum.
Wenngleich überraschende Wendungen im Drehbuch ausbleiben und die Dramaturgie ausrechenbar ist, ist der siebte Sänger-und-Dellwo-Fall unterm Strich gelungen – und das liegt auch am hervorragenden Cast. Neben dem markanten Jürgen Vogel, dem fabelhaften Tom Schilling und dem etwas unauffälligeen Matthias Matschke zählt auch der gewohnt grandiose HR-Stammgast Justus von Dohnányi (Wer bin ich?) in einer Nebenrolle als Bankier Karl Brockhorst zum Personal.
Bewertung: 7/10
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