Hier erfährst du, was sich hinter dem sogenannten „Tatort-Giftschrank“ verbirgt und welche Folgen derzeitig nicht mehr gezeigt werden dürfen.
Was ist der Giftschrank überhaupt?
Auch wenn der Name etwas Anderes nahelegen mag, handelt es sich dabei natürlich nicht um ein physisches Möbelstück: Im sogenannten „Giftschrank“ der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten landen besonders kontroverse oder problematische Filme mit einem senderinternen Sperrvermerk. Tatort-Folgen und andere Fernsehfilme, die nach ihrer TV-Premiere (oder auch später) einen solchen Vermerk erhalten, dürfen also bis auf Weiteres nicht im Fernsehen wiederholt werden.
Es gibt keinen gemeinsamen Giftschrank für den Tatort oder für andere Krimireihen und auch keine offizielle Giftschrank-Liste. Die verantwortlichen Produktionsfirmen und Sendeanstalten der ARD entscheiden selbst, welche in Auftrag gegebenen Folgen sie sperren oder für Wiederholungen freigeben. Landet eine Folge im Giftschrank, darf sie weder im Ersten oder auf ONE, noch in „dritten“ Programmen wie WDR, SWR & Co. laufen. Auch in die Mediatheken dürfen diese Tatort-Episoden nicht eingestellt werden.
Wichtig ist: Die Wahrnehmung der einzelnen Folgen ist subjektiv und kann sich im Laufe der Zeit erheblich verändern. Was in der Vergangenheit noch als problematisch angesehen wurde, muss heute nicht mehr zwangsläufig so betrachtet werden. Nicht selten werden Folgen also nach langem Giftschrank-Dasein doch wieder ins Programm genommen.
Welche Tatort-Folgen sind aktuell im Giftschrank?
Derzeitig gibt es sechs Tatort-Folgen, die nicht gesendet werden dürfen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Mal spielen inhaltliche Bedenken eine Rolle, mal sind es rechtliche Ursachen, mal sind sie die Gründe handwerklicher Natur.
Aktuell liegen diese Folgen im Giftschrank (Aufklappen für weitere Infos):
Tatort-Folge 16: „Der Fall Geisterbahn“ von 1972
Über 50 Jahre hat diese in Hessen angesiedelte Folge auf dem Buckel – und fast genauso lang sind auch schon die Eigentumsrechte an diesem Tatort ungeklärt. Es handelt sich bei diesem Krimi um die 16. Ausgabe der Reihe und zugleich um den zweiten Tatort mit Kommissar Konrad (Klaus Höhne), der einen Mord auf einem Rummelplatz aufklären muss.
Produziert wurde Der Fall Geisterbahn, der mit gerade einmal 73 Minuten Spielzeit zu den kürzesten aller Tatort-Folgen zählt, Anfang der 70er Jahre im Auftrag des Hessischen Rundfunks von der Horst Film GmbH & Co. KG Berlin. Die Produktionsfirma ging allerdings kurz nach der TV-Premiere des Krimis pleite und die Lizenzrechte sind seitdem unklar. Entsprechende Schriftstücke, mit der sich die rechtliche Lage im Nachhinein klären ließe, liegen offenbar nicht vor.
Der Hessische Rundfunk verzichtet deshalb bis heute auf Wiederholungen des Films.
Screenshot: Hessischer Rundfunk |
Tatort-Folge 73: „Reifezeugnis“ von 1977
Der sechste Tatort mit dem Kieler Hauptkommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) gilt als absoluter Klassiker der Reihe und wurde seit seiner TV-Premiere im Jahr 1977, bei der rekordverdächtige 25 Millionen Menschen einschalteten, schon sehr häufig wiederholt. Schnelle Berühmtheit erlangte der Krimi durch seine (damals) skandalträchtige Geschichte um die verbotene Affäre zwischen dem Lehrer Helmut Fichte (Christian Quadflieg) und seiner minderjährigen Schülerin Sina Wolf, gespielt von Nastassja Kinski, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten erst 15 Jahre alt war.
Und genau hier liegt der Grund, warum Reifezeugnis nicht mehr wiederholt werden darf: Im Februar 2024 kündigte Nastassja Kinski aus heiterem Himmel an, ihre Nacktszenen in dieser berühmten Tatort-Folge verbieten zu lassen (weitere Informationen). Ihr Rechtsanwalt teilte mit, sie habe als Minderjährige keine wirksame Zustimmung für diese Aufnahmen geben können. „Nastassja Kinski war damals faktisch ohne Begleitung am Set, als die Szenen gedreht wurden – eine rechtswirksame Einwilligung als Minderjährige ist damit denklogisch ausgeschlossen gewesen“, so der Anwalt. Er habe im Namen von Kinski für die Zukunft eine Einwilligung unabhängig davon widerrufen. Kinski selbst äußerte sich mehrfach auf ihrem Instagram-Account zu der Angelegenheit.
Der Norddeutsche Rundfunk teilte dem Stern dazu mit, dass der Film derzeit nicht zur weiteren Ausstrahlung geplant sei. „Wir sind im Gespräch mit Lizenznehmern, um den Film bis zur Klärung des Sachverhalts auch von Streaming-Plattformen zu nehmen“, so der Sender. Es finde eine juristische Prüfung sowie eine Abschätzung möglicher Folgewirkungen statt. Auf DVD ist der Film zumindest als Neuware nicht mehr erhältlich – gut möglich, dass gebrauchte Exemplare schon bald im Sammlerwert steigen.
Tatort-Folge 110: „Mit nackten Füßen“ von 1980
Screenshot: Hessischer Rundfunk |
Tatort-Folge 335: „Tod im Jaguar“ von 1996
Screenshot: SFB |
Tatort-Folge 346: „Krokodilwächter“ von 1996
Screenshot: SFB |
Tatort-Folge 684: „Wem Ehre gebührt“ von 2007
Screenshot: NDR |
Welche Tatort-Folgen waren mal im Giftschrank, sind es aber nicht mehr?
Mehrere Tatort-Folgen lagen viele Jahre, teilweise jahrzehntelang im Giftschrank, sind aber mittlerweile nicht mehr für Wiederholungen in den öffentlich-rechtlichen Kanälen gesperrt. Auch hierfür gibt es unterschiedliche Gründe.
Diese Folgen zählen nicht mehr zu den Giftschrank-Folgen (Aufklappen für weitere Infos):
Tatort-Folge 34: „Tote brauchen keine Wohnung“ von 1973
Auch eine vom Bayerischen Rundfunk in Auftrag gegebene Tatort-Folge fristete einst ein langes Dasein im Giftschrank des Senders: Tote brauchen keine Wohnung feierte seine TV-Premiere am 11. November 1973, wurde danach aber stolze 19 Jahre lang nicht im Fernsehen gezeigt.
Bei diesem sperrigen Krimi handelt es sich um den dritten Tatort mit dem Münchner Kommissar Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer), der die Vergiftung einer Rentnerin aufklären muss und in Zeiten zahlreicher Demonstrationen gegen die Gentrifizierung in der bayrischen Landeshauptstadt ermittelt.
Dass Tote brauchen keine Wohnung fast zwei Dekaden lang einen Sperrvermerk erhielt, liegt in diesem Fall nicht an negativen Zuschauerreaktionen, sondern ist hausgemacht: Der BR-Rundfunkrat störte sich an der „brutalen und menschenverachtenden Darstellung“ des von Walter Sedlmayr gespielten reichen Vermieters Pröpper. Erst als der Intendant des Bayerischen Rundfunks wechselte, wurde der Krimi 1992 im wiedervereinigten Deutschland im Fernsehen wiederholt. 2010 attestierte die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) dem Krimi eine Altersfreigabe ab 12 Jahren, die heutzutage der Standard bei neuen Tatort-Folgen ist.
Screenshot: BR |
Tatort-Folge 57: „Tod im U-Bahnschacht“ von 1975
Seine Fernsehpremiere feierte Tod im U-Bahnschacht bereits am 9. November 1975 – doch es dauerte stolze 20 Jahre, ehe der Film von seinem Dasein als Giftschrank-Tatort befreit und 1995 ein weiteres Mal gezeigt wurde. Im Krimi aus der Hauptstadt ermittelt erstmalig der Berliner Kommissar Schmidt (Martin Hirthe), der auf den Todesfall eines illegal beschäftigten Arbeiters mit Migrationshintergrund angesetzt wird und es mit Menschenschmugglern zu tun bekommt.
Für die lange Sperre werden gleich mehrere Ursachen vermutet: Neben des für damalige Verhältnisse ungewohnt drastisch inszenierten Todeskampfs des Opfers, den die Kameraleute Jürgen Wagner und Wolfgang Knigge in Großaufnahme einfangen, geriet auch die Darstellung der Polizei und der Arbeiter mit Migrationsgeschichte in die Kritik. Der damalige CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß etwa beschwerte sich beim damaligen SFB-Intendanten noch während der Erstausstrahlung des Films in der ARD über die vermeintliche „Verhöhnung der Berliner Polizei“. Auch zwischen dem Sender, der diese harsche Kritik entschieden zurückwies, und Regisseur Wolf Gremm soll es zu heftigen Meinungsverschiedenheiten gekommen sein.
Nach der ersten Wiederholung im Jahr 1995 kam der Krimi 2018 ein weiteres Mal ins Fernsehen: Das rbb Fernsehen, der Nachfolger des früheren Senders Freies Berlin, strahlte die 57. Tatort-Folge sogar in einer digital restaurierten Fassung aus. Ein Giftschrank-Tatort ist Tod im U-Bahnschacht deshalb heute nicht mehr.
Screenshot: SFB |
Tatort-Folge 78: „Drei Schlingen“ von 1977
Auch der Essener Tatort Drei Schlingen, der am 28. August 1977 erstmalig ausgestrahlt wurde, war ein stolzes Vierteljahrhundert für Wiederholungen in der ARD und in den „dritten Programmen“ gesperrt. Erst kurz nach der Jahrtausendwende erblickte der Krimi noch einmal das Licht der Öffentlichkeit. Der Grund für das lange Dasein im Giftschrank des WDR waren die zahlreichen Publikumsbeschwerden über die ungewohnt hohe Brutalität der 78. Tatort-Folge bei der TV-Premiere im Jahr 1977.
Es handelt sich bei diesem Krimi um den elften Tatort mit dem beliebten Kommissar Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy). Der Essener Ermittler wird auf einen sorgfältig geplanten Überfall auf einen Geldtransporter angesetzt, in dessen Zuge ein Wachmann erschossen wird.
Aus heutiger Sicht scheint der rund 25 Jahre andauernde, senderinterne Sperrvermerk für Drei Schlingen übertrieben – und so wurde der Tatort im Jahr 2003 nach der Freigabe durch einen Jugendschutzbeauftragten erstmalig wieder im Fernsehen gezeigt. Im Jahr 2009 attestierte auch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) dem Krimi die Altersfreigabe ab 12 Jahren, die heute für Tatort-Folgen der Standard ist.
Screenshot: WDR |
Tatort-Folge 109: „Der gelbe Unterrock“ von 1980
Fast 36 Jahre lang schlummerte der missglückte Tatort Der gelbe Unterrock im Giftschrank – am 16. Januar 2016 erblickte der Krimi, der im Karnevalsmilieu spielt, doch noch einmal das Licht der Öffentlichkeit. Die Folge wurde am 10. Februar 1980 erstmalig ausgestrahlt und anschließend mit einem Sperrvermerk versehen, weil der SWR ihn bereits damals für misslungen hielt.
Die erste Kommissarin der Krimireihe – Marianne Buchmüller (Nicole Heesters) – ermittelt in diesem Mainzer Tatort gegen einen psychisch gestörten Mann, der Frauen quält und unter Mordverdacht steht, als eine der Frauen zu Tode kommt. Viele Zuschauer hatten in den frühen 80er Jahren Probleme damit, der reichlich wirr, stellenweise aber auch unheimlich langatmig erzählten Handlung aus der Feder von Drehbuchautor Kristian Kühn zu folgen. Dass im Film von Karneval statt von Fastnacht (wie in Mainz üblich) gesprochen wird, ist da noch das kleinste Übel.
Trotz dieser Mängel wirkt der einstige Sperrvermerk aus heutiger Sicht übertrieben – wohl auch deshalb entschloss sich der SWR dazu, die Folge wieder aus dem Archiv zu holen. „Was damals Zuschauer aufgeregt hat, würde heute niemanden mehr interessieren“, ließ sich die einstige SWR-Fernsehfilmchefin Martina Zöllner 2016 zitieren. Schon bei seiner Erstausstrahlung 1980 habe der Film nicht gegen den Jugendschutz oder ein anderes Gesetz verstoßen.
Screenshot: SWF |
Tatort-Folge 222: „Blutspur“ von 1989
Auch ein Tatort mit Horst Schimanski (Götz George) lag viele Jahre lang im Giftschrank des WDR: Blutspur ist sein 21. Fall und wurde am 20. August 1989 zum ersten Mal in der ARD ausgestrahlt. In diesem Krimi ermittelt der Kult-Kommissar gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Christian Thanner (Eberhard Feik) gegen ein arabisches Terrorkommando, das im Ruhrgebiet sein Unwesen treibt und auf die beiden Ermittler feuert.
Ähnlich wie Drei Schlingen (s.o.) war der 21. Schimanski-Tatort lange Zeit wegen der vermeintlich zu hohen Brutalität für Wiederholungen gesperrt – aus heutiger Sicht erscheint das allerdings übertrieben. Sieben Leichen in nur einem Tatort waren Ende der 80er Jahre jedoch die absolute Ausnahme, und so dauerte es stolze zehn Jahre, bis Blutspur im Jahr 1999 zum ersten Mal im Fernsehen wiederholt werden durfte. Später veröffentlichte der WDR sogar eine restaurierte Fassung des Films, die im TV gezeigt und in der Mediathek bereitgestellt wurde.
Screenshot: WDR |
Tatort-Folge 894: „Der Eskimo“ von 2014
Am 5. Januar 2014 ging der Frankfurter Hauptkommissar Frank Steier (Joachim Król) zum ersten Mal ohne seine langjährige Kollegin Conny Mey (Nina Kunzendorf) auf Täterfang am Main – stattdessen stellte man ihm für einen Fall die nassforsche Kommissarsanwärterin Linda Dräger (Alwara Höfels) zur Seite. Die beiden ermitteln in Der Eskimo in einem eher wirren Mordfall, der amerikanische Elite-Soldaten und vermeintliche Alien-DNA zum Thema macht. Die eigenwillige Geschichte war allerdings nicht der Grund, warum der 894. Tatort für viele Jahre einen Sperrvermerk erhielt.
Schon während der TV-Premiere um 20.15 Uhr, an die sich noch die Erstausstrahlung der vielgelobten Kölner 22-Uhr-Episode Franziska anschloss, trudelten erste Beschwerden beim Hessischen Rundfunk und bei der ARD-Zuschauerredaktion ein. Mehrere Menschen beklagten sich darüber, dass sie im Film auf einem Foto zu sehen sein, ohne dass man sie vorher um Erlaubnis für die Verwendung dieses Bildes gefragt hätte. In mehreren Szenen des Krimis wird in alten Fotoalben geblättert, zu sehen ist dabei auch die Großaufnahme alter Klassenfotos (zum Beispiel bei Minute 17:39 oder bei Minute 27:29).
Eine ursprünglich für Februar 2014 angekündigte Wiederholung des Krimis im HR wurde deshalb gecancelt und es dauerte stolze sechs Jahre, ehe Der Eskimo ein weiteres Mal im Fernsehen und in der Mediathek zu sehen war. Ob der Film nachträglich bearbeitet wurde, was erhebliche Zusatzkosten generiert hätte, oder ob man sich der Sender mit den Betroffenen anderweitig einigen konnte, hat der Hessische Rundfunk bis heute nicht bekanntgegeben.
Screenshot: HR |
Warum wandern nicht mehr Tatort-Folgen in den Giftschrank, wenn sie doch offenbar diskriminierend sind?
Wer sich in jüngerer Vergangenheit mal einen Tatort mit Horst Schimanski (Götz George) oder einen anderen Fall, der schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat, im Fernsehen oder in der Mediathek angeschaut hat, ist vielleicht über diesen vorab eingeblendeten Hinweis gestolpert:
„Das folgende fiktionale Programm wird in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen, deren Sprache und Haltung aus heutiger Sicht diskriminierend wirken können.“
Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nehmen Diskriminierungen, die zum Zeitpunkt der Filmproduktion noch nicht als solche erkannt wurden, also nachträglich in Kauf, weil sie die älteren Tatort-Produktionen auch als ein Stück Fernseh- und Zeitgeschichte sehen. Dieser vorgeschaltete „Warnhinweis“ soll etwaigen Beschwerden des Publikums über mögliche Diskriminierungen entgegenwirken.
Unabhängig von einem internen Sperrvermerk der Sender wurden schon zahlreiche Tatort-Folgen seit Jahrzehnten nicht wiederholt – wenn mindestens eine Wiederholung nach der TV-Premiere gezeigt und kein neuer Sperrvermerk hinterlegt wurde, gelten sie aber nach allgemeinem Verständnis nicht mehr als „Giftschrank“-Folgen.