Offenes Ende: Interpretation und Erklärung zum Stuttgarter Tatort „Der Mörder in mir“

Im Tatort Der Mörder in mir vom 18. September 2022 bleibt das Ende offen. Lies hier, wie wir die Schlusssequenz und die Dialoge des Krimis aus Stuttgart interpretieren.

Haben zu wenig in der Hand: Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller).
Bild: SWR/Benoît Linder

Der 27. Tatort mit den Stuttgarter Hauptkommissaren Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) endet äußerst ungewöhnlich: Statt den Mörder – wie im Tatort üblich – zu verhaften und abzuführen, bitten die beiden Ermittler ihn erneut mit seinem Anwalt zum Gespräch. Zuvor gelingt es Lannert und Bootz nicht, die wichtigste Tatzeugin zu einer belastenden Aussage zu bewegen.
Es stellen sich insbesondere diese drei Fragen:


War das überhaupt ein Mord?

Festzuhalten ist zunächst, dass die Tat rein juristisch nicht zwingend als Mord gewertet werden muss. Der Rechtsanwalt und Familienvater Ben Dellien (Nicholas Reinke) ist bei seiner Autofahrt für wenige Sekunden abgelenkt und fährt deshalb den Obdachlosen „Foxy“ über den Haufen, den er im Dunkeln nicht gesehen hat. Er steigt aus, entdeckt die Mütze des Verletzten an seinem Heckscheibenwischer, steigt wieder ein und fährt weg.
Wenngleich der Krimititel Der Mörder in mir etwas Anderes nahelegt, ermitteln Lannert und Bootz zunächst nach einer Fahrerflucht mit Todesfolge, die bei entsprechender Beweislage als Mord gewertet werden könnte. Zwischen Bootz und dem Rechtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) kommt es bezüglich der Indizienlage zu Streitereien. Eine Absicht liegt beim Überfahren nicht vor, sehr schwer wiegt hingegen Delliens Wegfahren und das Liegenlassen des Schwerverletzten, dessen Leben hätte gerettet werden können. Ob die Tat als Mord angeklagt würde und wie hoch in diesem Fall das Strafmaß wäre, wird im Film nicht geklärt – darüber müssten die Staatsanwaltschaft und ein Gericht entscheiden.
Nach einem schweren Fehler von Gewissensbissen geplagt: Ben Dellien (Nicholas Reinke).
Bild: SWR/Benoît Linder

Kann der Täter überführt werden?

Nachzuweisen ist dem Täter lediglich, dass er mit seinem Auto auf der alten Solitude-Rennstrecke einen Unfall gebaut hat: Ben Dellien gibt bei der Befragung in Anwesenheit seines Anwalts an, dass er glaubte, ein Reh oder ein Wildschwein überfahren zu haben. Weil er sich vom Ort des Geschehens entfernt und die Tat verschwiegen hat, drohen laut Thorsten Lannert in diesem Fall nur ein Fahrverbot oder eine Geldbuße. Dellien leugnet, die verräterische „Foxy“-Kappe des Getöteten schon einmal gesehen zu haben – die ist in diesem Fall der entscheidende (und einzige) Beweis für Delliens Kenntnis darüber, dass es sich nicht um ein Tier, sondern um einen Menschen gehandelt haben muss.

Alle anderen Beweise werden von Dellien, der als Jurist genau weiß, was vor Gericht verwertet werden kann, systematisch vernichtet: Erst lässt er sein Auto waschen, anschließend fabriziert er einen Totalschaden, um die Unfallspuren zu verwischen. Weil trotz Wäsche und Crash noch Lackspuren nachweisbar sind, steckt der Hauptverdächtige seinen schrottreifen SUV sogar noch in Brand. Bei einer Gegenüberstellung wird er von einem Zeugen nicht zweifelsfrei erkannt – auch der Brand auf dem Schrottplatz ist ihm deshalb nicht nachzuweisen. Das „Blitzerfoto“ einer Radarfalle in der Nähe des Tatorts ist ebenfalls nur ein Indiz, aber kein Beweis für seine Schuld. Vor Gericht würde wohl gelten: Im Zweifel für den Angeklagten.
Hat diese Mütze angeblich noch nie gesehen: Ben Dellien (Nicholas Reinke).
Bild: SWR/Benoît Linder

Wird die Tatzeugin noch aussagen?

Wir gehen nicht davon aus – und Lannert und Bootz wohl auch nicht.
Nachbarin Laura Rensing (Tatiana Nekrasov), deren Kind in dieselbe Schulklasse geht wie der Sohn von Ben Dellien und seiner Gattin Johanna (Christina Hecke), wird am Ende des Krimis intensiv von den Kommissaren bearbeitet, kann sich aber nicht dazu durchringen, Dellien entscheidend zu belasten. Durch ihre Tätigkeit in der Autowaschanlage hatte sie die verräterische Mütze im Fahrzeug gefunden und auch die Unfallspuren am Fahrzeug bemerkt – beides gibt sie den Kommissaren aber nicht zu Protokoll. Hier der Schlussdialog im Wortlaut:

LANNERT:
Wenn Sie weiter schweigen, kommt Herr Dellien mit einer Geldstrafe davon. Vielleicht noch drei Monate Fahrverbot. Aber finden Sie, dass das eine gerechte Strafe ist für einen Mann, der einen Menschen wissentlich auf der Straße verbluten lässt?
RENSING:
(schüttelt den Kopf) Es tut mir leid, aber ich muss jetzt zu meinem Sohn. Er schreibt morgen eine wichtige Arbeit.

LANNERT:
Was wäre, wenn ihr Sohn auf der Straße verblutet wäre? Würden Sie dann auch schweigen?

BOOTZ:
Sie wollen also, dass Herr Dellien mit dieser Nummer durchkommt, ja? Dass der Tod eines Menschen ungesühnt bleibt, das ist Ihnen im Grunde genommen scheißegal.

RENSING:
Herr Dellien wird sicher sein ganzes Leben lang damit beschäftigt sein, dass seinetwegen ein Mensch zu Tode gekommen ist.

BOOTZ:
Ach, und Sie meinen, das ist dann Strafe genug? Na, dann kann ich meinen Job ja an den Nagel hängen, ne.

RENSING:
So meine ich das nicht.

BOOTZ:
Wie denn dann?

LANNERT:
Wissen Sie, wie lange ich das hier schon mache? Über 40 Jahre. Und ich mache das, damit Kinder wie Ihr Helge in einer sicheren Welt leben können. Aber dazu braucht es nun mal Regeln, an die man sich hält. Und Menschen, die dafür einstehen. Was meinen Sie, wie diese Welt aussieht, wenn jeder wegsieht, sich niemand einmischen will und alle nur sagen: „Mich geht das nichts an.“ 

RENSING:
(zögert) Ich muss jetzt gehen.


Nach diesem Dialog verlässt Rensing das Präsidium – und Lannert, der mit seinem Appell offenbar nichts bewegen konnte, gibt seinem frustrierten Kollegen Bootz einen tröstenden Klaps auf den Rücken. Bootz bedankt sich bei ihm. Wir interpretieren die Sequenz so, dass Lannert realisiert, dass sein Bemühen vergeblich war – und dass sich Rensing damit zufrieden gibt, dass Dellien die Schuld am Tod eines unschuldigen Menschen sein ganzes Leben lang verfolgen wird. Anschließend bittet Lannert Ben Dellien erneut zum Verhör.
Auch die alleinerziehende Rensing, die finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, würde von ihrem Schweigen direkt profitieren: Ben Dellien hatte ihr einen Job als Sekretärin in der Großkanzlei von Felix Mader (Ulrich Cyran) angeboten, in der er arbeitet und in der er kurz vor einer wichtigen Beförderung zum Partner steht. Dort würde sie deutlich besser verdienen als in der Autowaschanlage, in der sie zudem mit ihrem Vorgesetzten im Clinch liegt.
Kann sich nicht zu einer Aussage durchringen: Laura Rensing (Tatiana Nekrasov).
Bild: SWR/Benoît Linder