Folge: 273 | 28. März 1993 | Sender: SDR | Regie: Hartmut Griesmayr
Bild: SWR/Schroeder |
So war der Tatort:
Gespickt mit Anleihen aus Eduard Mörikes Stuttgarter Hutzelmännlein – denn dem zumindest auf der Schwäbischen Alb sehr berühmten Kapitel Das Märchen von der schönen Lau, die in Form einer Wassernixe bis heute am Ufer des Blautopfes als Steinskulptur von Touristen bestaunt wird, verdankt der zweite Tatort mit Ernst Bienzle (Dietz-Werner Steck) seinen geheimnisvollen Titel.
Im schwäbischen Blaubeuren schlägt das Herz des Krimis, denn der Stuttgarter Hauptkommissar ermittelt nach seiner Feuertaufe in Bienzle und der Biedermann erneut fernab der Heimat und ist gedanklich eigentlich schon im Urlaub: „Ärnschd“ will mit seiner Lebensgefährtin Hannelore Schmiedinger (Rita Russek) nach Korsika aufbrechen, als ihn kurz vor der Abfahrt die Nachricht erreicht, dass der einst von ihm überführte Schwerverbrecher Helmut Selneck (Gerd David) aus dem Gefängnis ausgebrochen ist.
Es folgt ein Szenario, wie es einige Jahre später vor allem für die Tatort-Folgen mit Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) typisch ist: Zwar ist bis dato noch kein Mord geschehen, doch fährt Bienzle aus der Landeshauptstadt in die Provinz, quartiert sich in einer Gastwirtschaft ein und nimmt Kontakt zur Dorfbevölkerung auf. Und während sich die Hannoveraner LKA-Kommissarin bei ihren zahlreichen Dienstreisen stets sicher sein kann, dass früher oder später Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) nachreist, lässt auch die Anreise von Hannelore nicht lange auf sich warten.
Zuvor gilt es für diese (und die Zuschauer) aber einen Gänsehautmoment zu überstehen: Als Bienzle abgereist ist, um Selneck in dessen Heimat Blaubeuren aufzuspüren, überfällt der Gesuchte seine Lebensgefährtin – und lässt erst von Hannelore ab, als die ihm verängstigt Bienzles Aufenthaltsort mitgeteilt hat. Später kommt es zur blutigen Konfrontation von Kommissar und verurteiltem Totschläger – doch erreicht dieser Handlungsstrang nie den Tiefgang, der für ein wirklich spannendes Katz-und-Maus-Spiel nötig gewesen wäre.
Tief hinunter geht es stattdessen im zweiten Erzählstrang, der sich auf die titelgebende schöne Lau bezieht: Der Kern der Geschichte dreht sich um Landwirt und Taucher Fritz Laible (Bernd Tauber, Haie vor Helgoland), der sich bei seinen Ausflügen in die unterirdische Blautopfhöhle so weit vorwagt wie sonst niemand im Ort. Wie gefährlich das Unterwasser-Unterfangen ist, schildert Gastwirt Pomerenke (Jürgen Holtz, Die Neue), während die Kamera Bilder von einem seiner Tauchgänge in der Finsternis zeigt – eine wahnsinnig atmosphärische und stimmungsvoll vertonte Sequenz, die mit den Urängsten des Publikums spielt.
GASTWIRT:Der Weg verzweigt sich. Man folgt einem Gang, fühlt sich sicher. Und plötzlich kommen Zweifel auf. Man will zurück, kommt wieder an eine Verzweigung und weiß nicht: rechts oder links? Man wendet sich in eine Richtung, aber die Zweifel werden stärker. Die Panik wächst. Der Taucher will auftauchen und stößt an die Höhlendecke. Und jetzt hat er plötzlich die Orientierung total verloren. Er weiß nicht mehr vorwärts, rückwärts, unten, oben. Und plötzlich ist die Angst da. Was sage ich, Angst? Todesangst.
Die schöne Lau – das ist im 273. Tatort Laibles umtriebige Gattin Vera (Despina Pajanou, Tödliche Tarnung), die im Ort so genannt wird, einleitend zu Dr. Albans 90er-Jahre-Hit It’s My Life und Nirvanas Grunge-Hymne Smells Like Teen Spirit abfeiert und nicht nur ihrem Ehemann den Kopf verdreht: Die selbstbewusste junge Frau, die der fast identisch frisierten Ludwigshafener Tatort-Kommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) zum Verwechseln ähnlich sieht, ekelt sich vor ihrem launischen Gatten und würde am liebsten nach München durchbrennen.
Weil andere Männer im Dorf ein Auge auf die Femme fatale geworfen haben, ist der Verlauf der Geschichte zwar früh vorherzusehen – kurzweilig erzählt ist das Ganze dennoch, wenngleich die erste Leiche in Bienzle und die schöne Lau erst nach einer knappen Stunde auf der Mattscheibe zu sehen ist. Rein strukturell ist das für einen Tatort ungewöhnlich und vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich die Drehbuchautoren Felix Huby (Salü Palu) und Werner Zeindler bei ihrer freien Adaption von Hubys gleichnamigem Roman (zu) lange mit der Jagd auf den entflohenen Selneck aufhalten.
Unter routinierter Regie von Hartmut Griesmayr (Haie vor Helgoland) entwickelt sich ein reizvoller Krimi, bei dem sich Hannelore nicht nur als frecher (und nach ihrem Trauma überraschend schnell genesener) Sidekick, sondern auch als Hobby-Analytikerin profilieren kann. Während die Filmemacher hier nie über ihr Ziel hinausschießen und die Balance zwischen Lockerheit und Suspense meistern, wirkt der offensive Flirt von Bienzles Kollegen Günter Gächter (Rüdiger Wandel) mit der kecken Bedienung Graziella (Antonietta Bonomi) ziemlich drüber – hier wäre weniger mehr gewesen.
Mit Blick auf die Besetzung gibt sich der zweite Bienzle-Tatort hingegen keine Blöße: Aus dem soliden Cast sticht neben Jürgen Holtz, der den aufbrausenden Laible fast hörig gegenüber der umworbenen Vera anlegt, vor allem Richard Beek in seiner einzigen Tatort-Rolle als erzkonservativer Almbauer hervor. Ein starker und charismatischer Auftritt in einem nicht ganz so starken, aber sehr ordentlichen Tatort.
Bewertung: 6/10
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