Folge: 411 | 2. Mai 1999 | Sender: WDR | Regie: Ben Verbong
Bild: WDR |
So war der Tatort:
Schulterroristisch.
Denn ähnlich wie der drei Jahre später ausgestrahlte, thematisch ähnlich gelagerte und absolut grandiose Fernsehfilm Wut nimmt der WDR uns in diesem Krimidrama mit an einen Ort, der für viele Kinder die Hölle auf Erden ist und den wir aus unserer Kindheit (fast) alle noch sehr gut kennen: eine öffentliche Schule. Dort herrschen nicht etwa Frieden und Freude am Lernen, sondern der blanke Terror, das pure Desinteresse und ein toxischer Mix aus Angst und Gewalt.
Die Schülerinnen und Schüler sind als Kinder der Gewalt auch titelgebend für diesen Kölner Tatort, in dem die Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) zum siebten Mal gemeinsam ermitteln – und sie können einem nur leid tun. Die meisten Lehrenden – eine engagierte Klassenlehrerin (Sabine Orléans, Wahre Liebe) ausgenommen – haben die minderjährigen Rabauken aufgegeben, während ihre Eltern sich nicht für ihren Nachwuchs interessieren, ihren Alltagsfrust an ihm auslassen oder gar keine Zeit für ihn haben.
Auf der Schultoilette kommt einleitend Milchbubi Jürgen (Christian Mickeleit) zu Tode, der Sohn von Wirtin Gabi Schuster (Saskia Vester, Kopper), in deren Hotel Ballauf Quartier bezogen hat: Von deutschen Schlägern wie „Tucky“ (Tom Schilling) und Kalle (Martin Heisterkamp) sowie dem arbeitslosen Nazi und – interessante Kombination – Onyx-Hörer Johannes Schmitz (Nikolaus Benda, Der Reiz des Bösen) wird er zur Mittäterschaft bei Einbrüchen erpresst, von türkischen Schlägern wie Ali (Dennis Lorke) und Murat (Memet Bulent) um seine Turnschuhe erleichtert. Also jagt sich der Junge in Full-Metal-Jacket-Manier eine Kugel in den Kopf. Oder war es doch gezielter Mord?
Der aufbrausende Ballauf ist der Einzige in diesem Krimi, der Zweifel an der Suizidtheorie hegt, was nicht von ungefähr kommt: Er hat am Vorabend mit Jürgen zwei Hamburger verdrückt und vergeblich versucht, ihn dabei auszuhorchen. Auch mit Blick auf seine vom Schicksal gebeutelte Vermieterin Gabi mag er den Fall nicht einfach zu den Akten legen.
SCHENK:Ich verstehe dich total. Aber hast du nicht das Gefühl, dass du dich da ein bisschen verrennst? Wir haben Anderes zu tun.BALLAUF:
Wir haben keine Zeit, ja? Wolltest du das gerade sagen? Wir haben keine Zeit? Niemals hat jemand für diesen kleinen Jungen Zeit gehabt! Sein ganzes kurzes verschissenes Leben lang!
Im soliden Drehbuch von Edgar von Cossart (Kindstod) und Ben Verbong, der auch Regie führt, sind Ballaufs Zweifel ein elementares Mittel zum Zweck: Gäbe es da nicht die Möglichkeit, dass Jürgen von einer anderen Person erschossen würde, würden Schenk und Ballauf gar nicht erst auf den Plan gerufen. Letzterer schleust sich sogar undercover als Sportlehrer an der Schule ein – und man muss beide Augen zudrücken, um sich auf diesen konstruierten Handlungsschlenker einzulassen.
Doch er bietet die willkommene Möglichkeit, in Anwesenheit des Ermittler tief in den täglichen Schulterror einzutauchen und Ballaufs persönliche Eindrücke im Präsidium Revue passieren zu lassen, Statements für Toleranz und Integration zu platzieren und die deutsch-türkische Dauerfehde an der Schule mit dem türkischstämmigen Kollegen Hakan (Baki Davrak, Tote Männer) zu reflektieren. Köln legt den Finger auch 199 schon auf den Puls der Zeit und in die offene Wunde der Gesellschaft – und wird das in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder tun (vgl. Rabenherz, Wacht am Rhein oder Wie alle anderen auch).
Unterm Strich gelingt den Filmemachern die Aufarbeitung der Problematik an Gesamtschulen sehr gut, wenngleich sie nicht alle Arm-Reich- und Deutsch-Nicht-Deutsch-Klischees umschiffen und die nur pro forma gestellte Frage nach der Auflösung in den Hintergrund rückt. Abzüge gibt es aber nicht nur für die konstruierte Undercover-Idee und einige schlecht gealterte Schwulen-Sprüche, sondern auch für die Besetzung: Mit den späteren Kinostars Tom Schilling (Auskreuzung) und der etwas zu alt gecasteten Jasmin Schwiers (Klassentreffen) gibt es zwar zwei hochtalentierte Darsteller in jungen Jahren zu entdecken, doch die TV-Karrieren von Christian Mickeleit, Max Riedel oder Dennis Lorke sind kurz darauf wieder beendet. Ihr mimisches Talent ist begrenzt.
Der Film ist für Stammzuschauer aber auch noch aus drei anderen Gründen interessant: Kinder der Gewalt ist der erste Tatort mit Tessa Mittelstaedt im Präsidium – kurioserweise aber nicht in ihrer populären Rolle als Franziska Lüttgenjohann (die sie im Jahr 2000 in Die Frau im Zug antritt), sondern als Assistentin Anja, der Urlaubsvertretung von Lissy Pütz (Anna Loos). Außerdem lernen wir Freddy Schenks älteste Tochter Sonja (Natalie Spinell, Licht und Schatten) kennen, die unter Max Ballaufs Schreibtisch für einen der humorvollsten Momente des Krimis sorgt. Freddy Schenk wiederum darf beim kitschigen Schlussakkord für ein paar Sekunden das Fußballtor hüten – eine kultverdächtige Szene, bei der der Keeper stolze acht Schüsse passieren lässt und keinen Ball hält.
Bewertung: 7/10
Schreibe einen Kommentar