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Der Reiz des Bösen

Folge: 1172 | 19. September 2021 | Sender: WDR | Regie: Jan Martin Scharf

Bild: WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin Valentin Menke
So war der Tatort:
Hybristophil.
Denn Der Reiz des Bösen – der Krimititel deutet es bereits an – thematisiert das noch weitgehend unerforschte Phänomen Hybristophilie, das bereits 2003 im Kölner Tatort Das Phantom angerissen wurde: Es geht um die Liebe von (meist weiblichen) Menschen zu gewalttätigen Schwerverbrechern wie Mördern, Totschlägern oder Sexualstraftätern.
Charles Manson hatte Wäschekörbe voller Liebesbriefe in seiner Zelle“, erklärt Psychologin Lydia Rosenberg (Juliane Köhler, zuletzt dabei im Tatort Gefangen von 2020) den Kölner Hauptkommissaren Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), der sich seinen Bart abrasiert hat und diesmal einen roten Ferrari als Dienstwagen fährt. Rosenbergs Einschätzungen und Analysen sind für den Fall ebenso wichtig wie die der Gefängnispsychologin Bianca Ambach (Tanja Schleiff, Mein Revier), denn es gilt, einen Serienmörder zu fangen: Der Gesuchte hat es gezielt auf hybristophile Frauen abgesehen, die sich auf eine Beziehung mit inhaftierten Straftätern eingelassen haben.
Der 1171. Tatort startet dennoch nicht als fiebriger Serienkillerthriller, sondern als klassischer Whodunit mit Auftaktleiche, SpuSi und Tatverdächtigen: Nach dem Mord an der Krankenschwester Susanne Elvan (Nesche Demir), die ihre Tochter Mia (Tesha Moon Krieg) vor ihrem stalkenden Ex-Mann Torsten Merser (Nikolaus Benda, Auf einen Schlag) zu schützen versucht, gerät zunächst ihr jähzorniger Gatte ins Visier der Kommissare. Tarek Elvan (Sahin Eryilmaz, Borowski und der Fluch der weißen Möwe) ist aufgrund seiner Vorstrafen und seiner kurzen Zündschnur aber so verdächtig, dass er für erfahrene Zuschauer von vornherein als Täter ausscheidet. Und er hat sich offenbar gebessert – was den Filmemachern Gelegenheit gibt, eine schöne Anspielung auf den vielgelobten Tatort Franziska von 2014 einzubauen.

AMBACH:
Während der Therapie hat Herr Elvan intensiv an seiner Impulskontrolle gearbeitet und wirklich große Fortschritte gemacht. Er hat glaubhafte Reue und Einsicht in seine Taten artikuliert.

SCHENK:

Das haben wir schon mal gehört – und plötzlich war unsere Kollegin tot.


Das Drehbuchautorenduo um Arne Nolting und Jan Martin Scharf, der bei seinem fünften Tatort auch selbst Regie führt, erzählt von Beginn an zwei gleichermaßen wichtige Geschichten parallel: Zum einen ermitteln Ballauf und Schenk in gewohnt souveräner Manier (zähe Zwischenfazits für denkfaule Zuschauer inklusive), zum anderen werden wir Zeuge von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung in einem Familiendrama, das den größten Reiz in diesem Krimi entfaltet – den Reiz des Bösen eben.
Dass der verurteilte Totschläger Bastian „Basso“ Sommer (Torben Liebrecht, Todesspiel) kein Kind von Traurigkeit, sondern ein gefährlicher Gewalttäter ist, erfahren wir schon vor seiner Haftentlassung, und dass sein Einzug bei der alleinerziehenden Ines Schröter (Picco von Groote, Niedere Instinkte), die sich über eine Brieffreundschaft im Knast in ihn verliebt hat, kein gutes Ende nehmen kann, ist früh zu erahnen. Wir können kaum begreifen, wie eine solche Liebe möglich sein kann – dass der Mann nichts Gutes im Schilde führt, riecht man schließlich zwei Meter gegen den Wind.
Besonders die beklemmenden Szenen, in denen Ines‘ Sohn Lenny (Wulf Kurscheid) unter den Gewaltausbrüchen des fiesen Ex-Sträflings leidet und sein Grundvertrauen in die eigene Mutter verliert, lassen wohl niemanden kalt – es sind die intensivsten Momente dieses starken Krimidramas. Und sie bereiten den Boden für einen tollen Plottwist, der in kleineren Details angedeutet wird und uns auf der Zielgeraden den Boden unter den Füßen wegzieht (wer nicht alles verstanden hat: Hier gibt es unsere ausführliche Tatort-Erklärung.)
Auch der herzkranke Assistent Norbert Jütte (Roland Riebeling) verliert bei seinem 11. Einsatz vorübergehend den Halt, denn Der Reiz des Bösen ist sein bisher persönlichster Fall: Weil er zu seiner Zeit bei der Wuppertaler „Sitte“ ein späteres Opfer des gesuchten Mörders kennengelernt und sich nach dessen Tod mit Elan in die Ermittlungen gestürzt hatte, verliehen ihm die Ex-Kollegen den Spitznamen „Turbo-Jütte“ – was für Ballauf und Schenk, die ihn einleitend beim Beobachten einer Weinbergschnecke auf der Tatstatur ertappen, natürlich eine völlig abwegige Vorstellung und eine Steilvorlage für Gags ist.
Dennoch verliert der Film bei diesen humorvollen, stellenweise aber auch sehr nachdenklichen Szenen selten die Balance zwischen Kriminalistik, Komik und Tragik – erst am Ende, als der Fall zu den melancholischen Klängen von Cigarettes After Sex gelöst und der Mörder verhaftet ist, muss noch ein für die Folgen aus der Domstadt typischer, allzu seichter Ausklang her. Eine Anspielung auf ein zweites ARD-Format neben dem Tatort gibt’s auch noch – und einen letzten Blick auf einen der schicksten Dienstwagen, den Freddy Schenk jemals fahren durfte.

BALLAUF:
Was passiert denn jetzt mit der Karre?

SCHENK:

Muss bis zu den Tagesthemen wieder zurück sein.


Bewertung: 8/10


Kommentare

23 Antworten zu „Der Reiz des Bösen“

  1. Bester Tatort ever! Bitte wiederholen! Wiederholen! Bitte wiederholen, dann kann ich ihn aufnehmen!!

  2. Super Tatort! Ging unter die Haut und beschäftigt einen noch nach Tagen. Das Schicksal des Kindes berührt einen sehr.

  3. Sehr, sehr gut mit Tiefgang.
    Die Augen des gequälten, unverstandenen Jungen sehe ich auch nach 2 Tsgen noch deutlich vor mir!

  4. Der Tatort bzw. sind für uns fast das Einzige, was noch sehenswert ist! Dieser Tatort ist absolut klasse! Keine politische Hetze! Keine armen Flüchtlinge! Kein "Fuck AfD"……macht weiter so und die Quoten sind euch sicher…

  5. Endlich wieder ein Tatort ,der dem eigentlichen Tatortprofil wieder gerecht geworden ist. Spannung,bewährte Kommissare mit "Turbo -Effekt",falsche Spuren,mitfiebern, miträtseln und und und.

  6. Der Tatort war super. Sehr spannend und emotional.
    Was mir allerdings unklar war und ist: als Jütte mit dem Täter in dem Abrisshaus war und in Gefahr war, woher wusste Schenk und Ballauf wo sich Jütte befand???? Sein Handy lag ja auch in der Gartenlaube. Eine Ortung war also auch nicht möglich.
    Aber gut…. Alles in allem 5 Sterne-und: weiter so !!!!

  7. Sehr gut.

  8. Fantastischer Tatort, gute Darsteller und der überraschende Twist am Ende – sehr spannend. Bitte mehr davon

  9. Ich habe noch eine Frage zum Verständnis: bei der Befragung der Mutter in der Jetzt-Zeit hat sie ja erwähnt, dass ihr Mann (der Ex-Knacki) vor einigen Jahren verstorben ist. Ist das irrelevant für die Handlung, oder ist es evtl. möglich, dass da auch der Junge dahintersteckt?

    1. Irrelevant für die Handlung ist Bassos Tod gewiss nicht, denn dadurch wird eindeutig, dass sich der parallele Handlungsstrang in der Vergangenheit abgespielt hat.
      Soweit ich den Film verstanden habe, steckt der Junge nicht hinter Bassos Tod. Allerdings schmeißt er seine Mutter von der Treppe und verübt später eine Serie von Stellvertretermorden.

  10. Das Kölner Team mit Hütte eigentlich mein lieblings Team.auch der Fall war spannend.Aber es nimmt langsam lächerliche Züge an wenn Schenk neuerdings mit Ferrari zu den Einsätzen durch Köln rast.. völlig drüber unrealistisch.

  11. Avatar von CT and Sha Simpao Tydecks
    CT and Sha Simpao Tydecks

    Super Tatort nach langem warten.

  12. Ein sehr guter tatort… Die zeitreise von Vergangenheit und Gegenwart war toll gemacht… Schön lange nicht mehr solch guten tatort gesehen.
    Besonders toll fand ich das Ermittler mal nicht durchgeknallt, psychisch am Ende oder von Substanzen abhängig sind.
    Mehr von solch guten Filmen… ��

  13. Absolut hervorragend! Ein clever verschachtelter Tatort, der die Zuschauer bis zum Schluss gekonnt an der Nase herumführt. Besonders ergreifend sind die Misshandlungen am Kind, verbunden mit der von Liebe geblendeten Mutter, die ihm (trotz sichtbarer Wunden) keinen Glauben schenkt. Man hofft bis zum Schluss, dass die Kommissare diesem Verbrechen frühzeitig ein Ende setzen – nur um entsetzt festzustellen, dass das Kind nicht mehr gerettet werden kann und das Verbrechen ungesühnt bleibt. Unfassbar ist auch, dass die Liebe zu Basso auch nach Jahren noch besteht.
    Positiv hervorzuheben ist auch, dass Jütte eine zentrale Rolle einnimmt und wir viel über ihn erfahren.
    Über kleine Schwächen besonders am Ende (wie konnten etwa Ballauf und Schenk ihren Kollegen so schnell und -was für ein Zufall- gerade im letzten Moment finden?) kann man leicht hinwegsehen.
    Die starken 8/10 Punkte hat sich dieser Tatort mehr als verdient. Ein großes Highlight in einem vergleichsweise eher durchwachsenen Tatort-Jahr.

  14. Ein sehr guter, spannender, erschütternder Tatort mit psychologischem Tiefgang und sehr guten schauspielerischen Leistungen. Danke Tatort Köln!

  15. Avatar von Wie war der Tatort?
    Wie war der Tatort?

    Tipp: Tatort noch ein zweites Mal schauen, dann fällt der Groschen bestimmt.

    1. Seit langem ein guter tatort

      Graoschen gefallen am Schluss!

    2. Oder die Erklärung auf dieser Website lesen – Fragen 2 und 3.

  16. Der Tatort wurde meiner Meinung nach nicht fertig gedreht. Da gibt es noch ein Opfer: Der kleine Junge dem der Knacki in den Magen geschlagen hat. Diese Straftat bleibt leider ungelöst

    1. Ehm tatort nicht verstanden?

      Der kleine Junge ist der Mörder.

      Hab es aber auch erst zum Schluss gecheckt. Obwohl ich mich schon gefragt habe wer heute noch mit so einer altertümlichen Einrichtung lebt, oder welches Kind heit noch mit einem grauen Gameboy spielt…selbst als die auf alt gemachte Mutter des jungen im Rollstuhl sitzt hab ich es nicht verstanden…..
      Die Szenen mit dem jungen waren alles rückblickend aus der Kindheit des mörders

    2. Ja das ist ja der junge (mann) am schluss der verrhaftet wird und der Mann der dies getan hat lebt ja nicht mehr

    3. Danke für die Lösung. Dad hat mich voll beschäftigt!

  17. Seit langem wieder ein sehr guter und spannender Tatort!!19.09.2021

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