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Macht der Angst

Folge: 673 | 16. September 2007 | Sender: NDR | Regie: Florian Baxmeyer

Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:
Angsterfüllt. 
Dabei ist es nicht etwa der Kieler Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg), der bei seinem neunten Tatort-Einsatz die titelgebende Angst am eigenen Leib erfährt. Beispiele dafür, wie angesehene Ermittler in einen Sog aus Macht- und Hilflosigkeit geraten und an ihre Grenzen stoßen, liefert die Krimireihe auch später noch zur Genüge – etwa im starken Münchner Tatort Der traurige König, beim schwachen Lindholm-Solo Alles kommt zurück oder im ungewohnt ernsten Beitrag Des Teufels langer Atem aus Münster.      
Die Drehbuchautoren Joachim Scherf und Thomas Kirchner (In seinen Augen) legen in Macht der Angst einen anderen Schwerpunkt. Sie bedienen sich bei ihrer ersten Arbeit für die Krimireihe motivisch bei Martin Scorseses „Kap der Angst“, in dem Nick Nolte als überheblicher Anwalt Sam Bowden ins Visier seines einstigen, auf Rache sinnenden Mandanten Max Cady (Robert De Niro) gerät und nicht nur um sein eigenes Leben, sondern auch um das von Frau und Tochter fürchten muss. 
16 Jahre nach dem vielgelobten Psychothriller von 1991 bleibt das Max-Cady-Pendant in Kiel lange Zeit unsichtbar – nicht jedoch seine Taten, die zu Beginn nicht nur den Puls von Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) in die Höhe treiben: Am helllichten Tag wird der beliebte Jochen Harmsen auf der belebten Hörnbrücke von einem Heckenschützen erschossen. Dessen Kollegin Simone Ehrt (Judith Rosmair, Macht der Familie), die die Tat unmittelbar mitansehen musste, steht unter Schock und zeigt sich in Anwesenheit von Borowski und Kriminalpsychologin Frieda Jung (Maren Eggert) auffallend furchtsam. Aber warum? 
Unterstützung bei der Beantwortung dieser und der Frage, wer in Kiel auf unbescholtene Bürger schießt, erhält das ungleiche Gespann diesmal vom eifrig-sympathischen Kommissar Thomas von Conradi (Stefan Haschke, Kollaps). Er überlässt Borowski nach einem Zwischenfall in einer Tiefgarage sogar uneigennützig sein Mobiltelefon und gibt ihm Nachhilfe in Sachen Multimedia. Es ist einer der wenigen pointierten Dialoge, die normalerweise ein Markenzeichen der Krimis von der Förde sind. 
 

VON CONRADI:
Sie können erst mal meins haben. 2,0-Megapixel-Kamera, integrierter MP3-Player, MMS, Office-Anwendung, Standard halt.

BOROWSKI:
Was wird das?

VON CONRADI:

Ein Foto.

BOROWSKI:

Kann man damit auch telefonieren?


Parallel zu den Geschehnissen rund um das Attentat verfolgen die Filmemacher einen zweiten, deutlich interessanteren Handlungsstrang: Am Landgericht läuft zeitgleich der Prozess gegen den Kindermörder Torben Meier (Kai Ivo Baulitz, Das geheime Leben unserer Kinder), den Borowski selbst verhaftet und dem er im Verhör ein Geständnis abgerungen hatte. Eigentlich ein Selbstläufer, wie der zuständige Staatsanwalt (Stephan Schad, Der Welten Lohn) großspurig behauptet, doch sowohl Meiers aalglatter Strafverteidiger Thies Nissen (Michael Brandner, Unter uns) als auch der dem Fall vorsitzende Richter Dr. Jens Voigt (gewohnt souverän: Michael Gwisdek, Schiffe versenken) wollen dieser Einschätzung überraschenderweise nicht folgen.  
Erfahrene Krimikonsumenten erahnen früh, dass zwischen den zwei Handlungsfäden eine Verbindung bestehen muss. Regisseur Florian Baxmeyer, später unter anderem verantwortlich für Bremer Tatort-Highlights wie Brüder oder Nachtsicht, inszeniert einen atmosphärischen und über weite Strecke spannenden Tatort, dem es aber an Tiefe fehlt. Das liegt insbesondere daran, dass der Filmemacher thematisch einfach zu viel in seinem Krimi aufgreift. 
Die Geschichte rund um den Gewissenskonflikt eines Richters, der um das Wohl seiner Frau Marianne (Mareike Carrière, Beweisaufnahme) und seiner aufmüpfigen Teenagertochter Corinna (Carolyn Genzkow, von 2015 bis 2020 als Kommissarsanwärterin Anna Feil im Berliner Tatort zu sehen) bangt und für Gerechtigkeit sorgen möchte, hätte schon allein Stoff für einen abendfüllenden Krimi geboten, kommt letztlich aber viel zu kurz. Gleiches gilt für die zum Ende hin in den Fokus rückende Thematik der Pädophilie, die zwar behutsam, aber nur oberflächlich beleuchtet wird. Dennoch bleibt vor allem eine Sequenz in Erinnerung: Wenn Borowski und Jung das Material des Kinderschänders sichten, zählt dies ohne Frage zu einem der erschütterndsten Momente der Kieler Tatort-Historie. 
Die spannende Entwicklung der Beziehung zwischen Borowski und Jung, die im 673. Tatort ungewohnt handzahm wirkt, muss angesichts der inhaltlichen Überfrachtung ebenfalls zurückstehen. Immerhin: So fulminant die Geschichte beginnt, so dramatisch endet sie auch. Unterm Strich steht damit ein sehenswerter, aber kein herausragender Tatort. Dass es sowohl Baxmeyer als auch der Kieler Tatort (noch) besser können, haben beide in den Folgejahren des Öfteren bewiesen.
 
Bewertung: 6/10

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