Folge 1021
30. April 2017
Sender: BR
Regie: Philip Koch
Drehbuch: Holger Joos
So war der Tatort:
Nötig.
Denn als im Oktober 2016 die letzten Minuten der großartigen Münchner Tatort-Folge Die Wahrheit über die Mattscheiben geflimmert waren und Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) den Täter weder ermittelt noch gefasst hatten, verlangten viele Fans nach einer Fortsetzung: Ein brutaler Mörder, der am Ende entkommt? Im Tatort undenkbar!
Doch der BR hatte längst vorgesorgt: Heimlich, still und leise hatte der Sender einen Nachfolger drehen lassen und gab dies nach dem Abspann über die sozialen Medien bekannt. Aber wäre es nicht viel wirkungsvoller gewesen, das Ende offen zu lassen und gezielt mit den Sehgewohnheiten des Publikums zu brechen? Angesichts der überragenden Fortsetzung Der Tod ist unser ganzes Leben, der noch eine Ecke spannender ausfällt als der hochklassige Vorgänger, kann man konstatieren: Nein, wäre es nicht!
Denn ähnlich wie bei den Kieler Beiträgen Borowski und der stille Gast und Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes ziehen die Filmemacher die Daumenschrauben in der Fortsetzung deutlich an: Statt als Whodunit-Konstruktion nach Schema F entpuppt sich der Film schon früh als mitreißender Psychothriller und existenzielles Drama, das gehörig an die Nieren geht.
Der Täter steht dabei von Beginn an fest, denn der Mörder von Ben Schröder wird nach der Attacke auf ein weiteres Opfer identifiziert: Es ist Thomas Barthold (fantastisch: Gerhard Liebmann, Die letzte Wiesn), der mit seiner stoischen Ruhe, seiner abfälligen Gleichgültigkeit und einem auffälligen Zahlen-Tick nicht nur optisch an Hollywood-Killer John Doe (Kevin Spacey) aus David Finchers Meisterwerk Sieben erinnert und die Ermittler psychisch und physisch bis an ihre Grenzen bringt.
Schon bald steht alles auf dem Spiel – nicht nur die Lösung des Falles, sondern auch die Gesundheit und das 26-jährige Vertrauensverhältnis der ergrauten Ermittler, die wie in Die Wahrheit fleißig in Erinnerungen schwelgen.
Regisseur Philip Koch und Drehbuchautor Holger Joos (Das verkaufte Lächeln) erzählen die Geschichte auf zwei miteinander verschachtelten zeitlichen Ebenen und bringen auch einige elegant eingeflochtene Rückblicke auf den Vorgänger unter – eine wahre Herkulesaufgabe, die die Filmemacher mit Bravour meistern.
Weil man Batic und Leitmayr schon zu Beginn im Krankenhausbett und auf Krücken durch die Gegend humpeln sieht und sich Leitmayr zudem vor dem Untersuchungsausschuss unter Vorsitz der argwöhnischen Kriminaloberrätin Horn (Lina Wendel, Blutschuld) verantworten muss, stellt sich sofort die Frage, wie es dazu kommen konnte: Man kann zwar erahnen, das beim Gefangenentransport des inhaftierten Barthold unter Aufsicht der Justizbeamten Sabine Merzer (Friederike Ott) und Robert Steinmann (Jan Bluthardt) etwas Dramatisches passiert, aber nicht was und warum.
Dass es in Wir sind die Guten, in dem Batic sein Gedächtnis verlor und unter Mordverdacht stand, eine recht ähnliche Geschichte gab und auch Leitmayr in Der traurige König schon mal bei der internen Ermittlung antanzen musste, stört hier angesichts des immens hohen Unterhaltungswerts nicht im Geringsten. Denn auch handwerklich ragt der 1021. Tatort um Längen aus der durchschnittlichen Krimimasse heraus: Schon der beklemmende Auftaktmord läuft zu einem bedrohlichen Klangteppich in Zeitlupe ab – nur eine von vielen großartig in Szene gesetzten Sequenzen, mit der die Weichen früh auf Hochspannung gestellt werden.
Auch in der Folge bleibt dem Zuschauer kaum Zeit um Luftholen: Die düstere Atmosphäre zieht sich ebenso konsequent durch den Film wie die alles überstrahlende Frage nach der Wahrheit, die zum zweiten Mal binnen sieben Monaten zum Leitmotiv im Krimi aus München wird: Was verschweigt Batic seinem Freund und Kollegen – und hat er sich womöglich selbst zum Schuldigen gemacht?
Wer diese Frage beantwortet wissen will, braucht neben einem guten Nervenkostüm auch einen robusten Magen: Das Blut fließt in diesem überraschend brutalen Beitrag aus Bayern gleich literweise – es sind fast die einzigen Farbtupfer in den auffallend ausgeblichenen Bildern, die sich nachhaltig ins Gedächtnis brennen. So ist Der Tod ist unser ganzes Leben unter dem Strich eine der spannendsten Tatort-Folgen aller Zeiten und der 75. gemeinsame Fall zugleich einer der besten der altgedienten Münchner Ermittler, die erfreulicherweise noch nicht ans Aufhören denken.
Bewertung: 10/10
Schreibe einen Kommentar