Folge: 1217 | 20. November 2022 | Sender: MDR | Regie: Gregory Kirchhoff
Hier und da an den Haaren herbeigezogen – aber auch unheimlich unterhaltsam.
Dabei beginnt
Katz und Maus fast so bodenständig wie der starke Stuttgarter Tatort
Der Mörder in mir, der zwei Monate zuvor lief und neben Nebendarstellerin Christina Hecke eine weitere Gemeinsamkeit mit diesem Dresdner Tatort teilt: Er startet mit einem nächtlichen Unfall, bei dem ein Radfahrer von einem Auto überfahren wird. Schon einen Augenblick später entwickelt sich der achte gemeinsame Fall der Oberkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) allerdings in eine vollkommen andere Richtung.
Die vermeintliche Täterin am Steuer – Sensationsjournalistin Brigitte Burkhard (Elisabeth Baulitz,
Die Kalten und die Toten) – braust nämlich nicht davon und überlässt den Angefahrenen sich selbst, sondern wird vom vermeintlich schwerverletzten Opfer, dem Familienvater Michael Sobotta (Hans Löw,
Limbus), überwältigt und entführt. Anschließend richtet sich Sobotta per Online-Video mit Mäusemaske (!) und einer wirren Forderung an die Kripo um Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach): Er gibt den Ermittlern 24 Stunden Zeit, um 150 (!) in Sachsen entführte Kinder zu befreien, die angeblich in einem Keller gefangen gehalten werden.
Bitte was?
Hört sich abstrus an und ist auch genau das: Sobotta ist zwar weder beim einleitenden Sturz, noch generell auf den Kopf gefallen, glaubt aber wilden Verschwörungserzählungen im
Pizzagate-Stil, die im Jahr 2022 jeder mit Tastatur, Smartphone oder Webcam ungeprüft in die Online-Welt posaunen kann. Ein Thema, mit dem der Schweizer Tatort
Der Elefant im Raum und der Münster-Tatort
Propheteus Schiffbruch erlitten, das hier aber auch dank der wohldosierten ironischen Distanz gut funktioniert. Sobotta selbst setzt in seinem Videoclip etwa auf kryptische Lichtzeichen und Signale, die die Kommentarspalten zum Glühen bringen – und ist damit bei Internetverweigerer Schnabel genau an der richtigen Adresse.
GORNIAK:
Hier glaubt jemand, in den Lichtsignalen Koordinaten erkannt zu haben.
SCHNABEL:
Mein Gott. Merken Sie eigentlich, wie die Leute verblöden durch das Internet? Atlantis-Koordinaten!? Die drehen doch alle vollkommen durch!
Allein die ersten 20 Minuten der stimmungsvoll vertonten 1217. Tatort-Folge böten als erzählerischer Husarenritt ausreichend Material, um einen ganzen Sonntagskrimi zu füllen. Doch sie bilden im Drehbuch von Stefanie Veith (
Risiken mit Nebenwirkungen) und Jan Cronauer (
Friss oder Stirb) nur den eilig vorgetragenen Prolog einer packenden Geschichte, die anschließend von Neuem beginnt. Bis dato geschieht alles wie im Zeitraffer: Journalistin gekidnappt, Video veröffentlicht, Volkes Zorn erregt, SEK-Einsatz angeordnet, Pressekonferenz einberufen, an den Entführer appelliert, Journalistin im Live-Stream erschossen. Oha. Und dann wird plötzlich Schnabel entführt.
Einen Ermittler persönlich zu involvieren oder in Lebensgefahr zu bringen, scheint als effektives Mittel zum Steigern der Spannung in der Krimireihe mittlerweile unverzichtbar geworden zu sein, aber es funktioniert – das muss man anerkennen – auch hier wieder hervorragend. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Sobotta in seinem Unterschlupf wunderbare Wortgefechte mit dem entnervten Kripochef liefert, bei denen Martin Brambach zeigt, was für ein fabelhafter Schauspieler er ist. Ob Schnabel seine Gefangenschaft überlebt, bleibt bis in die Schlussminuten offen (wir beantworten die Frage
⇨ hier).
Ansonsten setzen die Filmemacher um Regisseur Gregory Kirchhoff konsequent auf Elemente, die den Dresdner Tatort schon seit Winklers Dienstantritt in der großartigen Folge
Das Nest zum finstersten Vertreter der Krimireihe machen:
Katz und Maus ist eher rasanter Thriller als klassischer Krimi und bis zum dramatischen Finale auffallend düster arrangiert. Der fiebrige Beitrag aus Sachsen punktet mit einer steilen Spannungskurve, die durch Horror-Anleihen und Actionsequenzen nie in den Keller stürzt. Eine Begegnung im Hausflur und eine UV-Licht-Entdeckung an der Wand erinnern gar an einen der besten Thriller der Hollywood-Geschichte: David Finchers Meisterwerk
Sieben.
Und doch bietet der Film viel Angriffsfläche: Wer in frommer Hoffnung auf einen glaubwürdigen Plot, realistische Polizeiarbeit oder eine bis ins Detail schlüssige Geschichte einschaltet, findet die Aufreger gleich im Dutzend. Die Handlung gerät stellenweise hanebüchen und die Polizei begeht auf der Suche nach Schnabel und dem Täter stümperhafte Fehler. Mit dem moralisch fragwürdigen Nachstellen eines Befreiungsvideos und dem Instrumentalisieren des Fake-News-Experten Holger „Grinsekatze“ Kirbach (Paul Ahrens) verliert der Film dann endgültig die Bodenhaftung – doch selbst dieser wilde Drehbuchkniff sei ihm mit Blick auf den hohen Unterhaltungswert verziehen.
Bewertung: 8/10
Schreibe einen Kommentar