Folge: 1247 | 22. Oktober 2023 | Sender: HR | Regie: Florian Gallenberger
Paradiesisch.
Denn sie alle suchen in diesem Tatort wie Bruno Bozzettos
Herr Rossi nach dem ultimativen Glück: Eine Bankerin und ein Banker, die kaum wissen, wohin mit ihrem Geld, bezahlen das Streben nach maximaler Erfüllung im Leben mit eben diesem. Die Kripo findet sie tot und mit seltsam manipuliertem Bauchnabel (!) auf. Und auch der Wiesbadener LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur), der mit seiner Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) auf die skurrilen Todesfälle angesetzt wird und gerade eine depressive Phase durchmacht, erlebt paradiesische Zustände. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg.
Die Erwartungen waren hoch, nachdem Ulrich Tukur den mit ihm befreundeten Regisseur, Drehbuchautor und Oscar-Preisträger Florian Gallenberger in den Himmel lobte: „Das Drehbuch ist nach
Im Schmerz geboren das beste, das ich gelesen habe. Das Ding hat es wirklich in sich. Mal sehen, ob der Hessische Rundfunk das ökonomisch stemmen kann“, so der Schauspieler im Vorfeld. Und was soll man sagen? Der HR kann. Er bringt mit
Murot und das Paradies einen erstklassig besetzten, außergewöhnlichen und mit vielen Filmzitaten gespickten Arthouse-Krimi ins Fernsehen, der scheue Tatort-Puristen fast zum Abschalten
zwingt. Der Sender sprengt das Korsett der Krimireihe fulminant und nutzt den prominenten Sendeplatz einmal mehr für einen faszinierenden Genremix, der in seiner ganz eigenen Liga spielt.
Dabei geht es recht klassisch und mit bemerkenswerter Besetzung los: Nachdem Wächters Anrufe zum Auffinden der ersten Leiche Murot von der Couch des Analytikers Dr. Wimmer holen (der frühere Leipziger Tatort-Kommissar Martin Wuttke spielte im vielkritisierten Tatort
Leben Tod Ekstase eine ähnliche Rolle), tanzen die beiden bei der hochnäsigen Dr. Dr. Kispert in der Gerichtsmedizin an. „Die mit Abstand Schlimmste“ (Murot) mimt Fassbinder-Aktrice Eva Mattes, die von 2002 bis 2016 die beliebte Klara Blum im Bodensee-Tatort gab. Ein herrlich überzeichneter Auftritt – man spürt, wieviel Freude ihr dieses subtil-bissige Schauspiel gemacht haben muss.
Dann begibt Murot sich in Mainhattan auf Mördersuche, bei der Zeit für aberwitzige Vagina-Cupcake-Momente mit den Kollegen Detlev Nübel (Alex Kapl) und Thorben Pohlmann (Jan Krauter,
Liebe mich!) sowie eine freizügige Begegnung mit der Performance-Künstlerin Ruby Kortus (Ioana Bugarin) bleibt. Und auch für eine beruhigende Zigarette im Präsidium, die sich Murot mit einer köstlichen Selbstverständlichkeit ansteckt, als wäre das hier ein Tatort aus den 70er oder 80er Jahren.
WÄCHTER:
Müssen Sie jetzt unbedingt rauchen?
MUROT:
Wir haben zwei Tote ohne Nabel, die im Wasser liegen, verdurstet, beziehungsweise erfroren sind. Wir stehen so vollkommen blank da wie ein Seemann ohne Hose. Da wird man doch wohl mal ’ne Zigarette rauchen dürfen.
Über Umwege landet Murot auf einer geheimen Untergrundparty, bei der sich die Investmentbanking-Szene hemmungslos in Ekstase feiert. Und nach einer Tanzeinlage mit
Pans-Labyrinth– und
Pulp-Fiction-Anleihen, die auch die Bühne für den besten Gag des Films bietet (Stichwort:
Kreissparkasse Butzbach), geht es ins Hinterzimmer namens „Paradies“. Hier streift der 1247. Tatort dann all das ab, was einen klassischen Krimi ausmacht, und entführt uns auf einen philosophisch angehauchten und aufwändig in Szene gesetzten Exkurs, der sich intensiv mit der Frage beschäftigt, was das Paradies eigentlich ist und ob wir es jemals erreichen können.
Ein Ort ist es kaum, wie Eva Lisinska (Brigitte Hobmeier,
Die Unmöglichkeit, sich den Tod vorzustellen) Murot bei der ersten Begegnung erläutert. Aber was sonst? Das geborgene Gefühl eines Säuglings, der an der Brust der liebenden Mutter gestillt wird? Ein schwereloses Schweben im Weltall, bei dem Raum und Zeit zu den auch in Stanley Kubricks
2001 – Odyssee im Weltraum verwendeten
Donauwalzer-Klängen verwischen? Oder der historische Moment, in dem man den Lauf der Geschichte verändern und
den größten Massenmörder aller Zeiten zum Wohle der Menschheit ins Jenseits befördert? Das müssen wir alle für uns selbst entscheiden, oder besser gesagt: erfahren, wenn wir denn je die Möglichkeit dazu bekommen.
Murot erhält diese Chance und nimmt uns auf seinen schillernden Erfahrungstrip mit – zur Sorge der ahnungslosen Wächter, die seinen an die Simpsons-Episode
Make Room For Lisa, James Camerons Box-Office-Hit
Avatar oder andere Sci-Fi-Filme erinnernden Aufenthaltsort nicht kennt und den Krimi mit ihren Rettungsmanövern zusammenhält. Die Täterfrage ist früh geklärt, aber zweitrangig, denn der Whodunit existiert nur auf dem Papier. Stattdessen konfrontieren uns die Filmemacher mit einer Nahtoderfahrung (gab es in ähnlicher Form im Murot-Tatort
Es lebe der Tod) und viel existenzielleren Fragen. Das nicht nur ästhetisch herausragende Experiment klingt mit einem augenzwinkernden Epilog in Shanghai genauso wunderbar ironisch aus, wie es in Kisperts Keller beginnt.
Bewertung: 9/10
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