Folge 1270
5. Mai 2024
Sender: rbb
Regie: Mira Thiel
Drehbuch: Mira Thiel, Josefine Scheffler
So war der Tatort:
Vietnamesisch.
In seinem zweiten bzw. dritten Tatort nach der vielgelobten Doppelfolge Nichts als die Wahrheit (1) und Nichts als die Wahrheit (2) taucht das Berliner Ermittlerduo Robert Karow (Mark Waschke) und Susanne Bonard (Corinna Harfouch) nämlich tief in die vietnamesische Lebenswelt ein – und dabei schlägt der Film auch einen historischen Bogen zurück in die 90er Jahre. Im Osten Deutschlands waren das die Baseballschlägerjahre, die der rbb auch in einer Dokumentation beleuchtete – und in diesem düsteren Kapitel deutscher Nachwendezeit hatten viele Zugewanderte asiatischer Herkunft stark unter Anfeindungen und Gewalt zu leiden.
Unter sexualisierter Gewalt litt hingegen das Opfer, das es in Am Tag der wandernden Seelen zu finden gilt: Die vietnamesische Pflegekraft Bui Thi Vien (Hanh Mai Thi Tran) wurde vom sadistischen Sohn einer demenzkranken Rentnerin im Keller gefangen gehalten, vergewaltigt und mit Folterwerkzeug aufs Heftigste malträtiert. Nun liegt ihr Peiniger, der das Ganze auf VHS (!) dokumentiert hat, erstochen im Haus der verschwundenen Seniorin. Die verletzte Vietnamesin wiederum, die ihn in Notwehr getötet hat, ist in der Hauptstadt untergetaucht und lässt am Tatort eine Blutlache, DNA-Spuren und ein Bild des Grauens zurück.
Regisseurin Mira Thiel, die bereits die deutlich seichteren (wenngleich sehr sehenswerten) Weimar-Folgen Der letzte Schrey und Der feine Geist inszenierte und gemeinsam mit Josefine Scheffler auch das Drehbuch zu ihrem dritten Fadenkreuzkrimi schrieb, serviert uns keine leichte Kost – und nimmt sich für die obligatorische Tatort-Besichtigung in Torture-Horror-Manier so viel Zeit, wie sie dieser normalerweise eher gemütlich arrangierte Standardmoment in der Krimireihe selten eingeräumt bekommt. Karow, Bonard und die SpuSi halten sich über eine Filmviertelstunde im Haus auf, entdecken den Folterkeller, Familienfotos und weitere Spuren.
Und sie lernen die Nachbarinnen kennen, bei dem der Krimi in seinem offensichtlichen Wunsch, die Vielfalt des bunten Berlins auszustrahlen, über sein ehrenwertes Ziel hinausschießt: Die anstrengenden Über-den-Zaun-Guckerinnen Neda (Lena Baader, Die ewige Welle) und Hannah Morani (Lara-Sophie Milagro, Der kalte Fritte) sind ein lesbisches, genderndes Ehepaar verschiedener Hautfarben und haben ihren Garten gut sichtbar mit Regenbogenfähnchen dekoriert. Plakativer kann man Diversität kaum einfangen – und auch auf der Tonspur klingt das seltsam bemüht.
Dieser offenbar nicht satirisch gemeinte Disput bleibt nicht die einzige Szene, in der Bonard eine vulgäre Seite offenbart – eine Hommage an ihre frei Schnauze sprechende Vorgängerin Nina Rubin oder der missglückte Versuch, der Polizeiakademie-Rückkehrerin ein Bad-Ass-Image zu verleihen? Fragen zur vietnamesischen Lebenswelt und zu fernöstlichen Gebräuchen werden hingegen reichlich beantwortet, auch wenn sie manchmal nicht gestellt werden: Die bis in die Haarspitzen motivierte LKA-Kollegin Pham Thi Mai (Trang Le Hong) hat selbst vietnamesische Wurzeln und wird Karow und Bonard in diesem Tatort als eine Art Fremdenführerin und Erklärbär zur Seite gestellt.
Wir lernen, dass sich Südvietnamesen und Nordvietnamesen ähnlich schwer miteinander tun wie Ossis und Wessis. Dass viele von ihnen ohne Krankenversicherung in Deutschland leben. Dass sie nicht an den Tod glauben, aber ihre Verstorbenen ehren und in Pagoden vegetarisch essen. Seinen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag erfüllt der rbb mit der deutsch-asiatischen Völkerverständigung ohne Zweifel. Ein wirklich mitreißendes Krimidrama ist Am Tag der wandernden Seelen, dessen Titel ebenfalls auf den vietnamesischen Glauben zurückgeht, hinten raus aber nicht (mehr).
Dafür fehlt es der beklemmenden Geschichte im folkloristisch angehauchten Schlussdrittel an Drive: Der Täter liegt ja tot im Haus, muss also nicht gefunden werden. Der Aufenthaltsort seines Opfers und dessen Verbindung zur gut vernetzten Tierärztin Dr. Lê Müller (Mai-Phuong Kollath) sind uns bald bekannt, während die Kriminalisten im Nebel stochern. Und dass womöglich ein zweiter Täter im Spiel war, klärt sich sehr spät – entsprechend wenig Fahrt nimmt die hastige Suche nach seiner Identität noch auf. Andere Sequenzen schaden der ansonsten so bedrückenden und ernsten Tonalität – etwa jener gut gemeinte Moment, in dem sich Karow undercover und mit Sonnenbrille im hippen Nagelstudio bei Phan Van Tuyen (Viet Pham) eine Maniküre gönnt.
Auch die Auseinandersetzung mit den Baseballschlägerjahren und ihren Folgen für Menschen mit Migrationsgeschichte gerät im 1270. Tatort etwas halbherzig – dass Deutschland auch 30 Jahre später noch ein Problem mit rechter Gewalt hat, wurde in Nichts als die Wahrheit (1) und Nichts als die Wahrheit (2) schon überzeugender illustriert. Stattdessen punktet der Film aber atmosphärisch und mit seinem authentisch-klischeearmen Scheinwerferlicht auf die vietnamesische Kultur – was am Ende spürbar auf Kosten der Spannung geht.
Bewertung: 5/10
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