Bild: BR/Rolf von der Heydt

Im Herzen Eiszeit

Folge 307

2. April 1995

Sender: BR

Regie: Hans Noever

Drehbuch: Peter Probst

So war der Tatort:

Sentimental.

Denn nicht nur die Charaktere in diesem 10. Fall der Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) schwelgen fleißig in Erinnerungen: Auch beim Zuschauen stellen sich aus heutiger Sicht dank der Bilder, Gesichter und Musik vergangener Tage sentimentale Gefühle ein.

Im Zentrum des 307. Tatorts steht nämlich der gut ein Jahr nach der TV-Premiere des Krimis viel zu früh verstorbene Rio Reiser: Der selbsternannte König von Deutschland und frühere Frontmann von Ton Steine Scherben mimt im Krimi die Episodenhauptrolle des Ex-Sträflings Reinhard Kammermeier und steuert auch den Soundtrack bei. Die sozialkritische, linksalternative Einstellung des Sängers spiegelt sich dabei in seiner Rolle wider; Kammermeier ist ein ehemaliger Hausbesetzer aus der linksradikalen Szene, der nach elf Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird.

Mit einigen Freunden hatte er damals ein Luxusgeschäft überfallen, wobei ein Wachmann zu Tode kam – Kammermeier wurde als einziger Täter verhaftet und verurteilt, ohne die Identität seiner Komplizen preiszugeben. Nun muss er feststellen, dass seine Ex-Gefährten inzwischen zu genau der Art biederer Münchner geworden sind, für die sie früher nur Verachtung übrig hatten. Einer der Gauner wird kurz nach Kammermeiers Entlassung ermordet, was ihn zum Hauptverdächtigen macht, doch Regisseur Hans Noever (Verrat) lässt uns direkt wissen, dass der aus der Haft entlassene Mann sich nichts hat zu Schulden kommen lassen: Wir werden Zeuge des Mordes, den Richard „Rick“ Heiger (Tobias Hoesl) begeht, weil er von der Beute des Überfalls nichts abgeben möchte.

Die Tat ruft Batic und Leitmayr auf den Plan, die anfangs wenig Kamerazeit bekommen und nach einem Anschlag auf eine weitere Person aus dem Kreise Kammermeiers, den exzentrisch-überzeichneten TV-Produzenten Oliver Reichel (Wilfried Hochholdinger, Dunkle Zeit), schnell die Verbindung zwischen den Opfern und der Hausbesetzerszene herstellen. Kammermeier zieht derweil wieder bei seinem Vater (Otto Grünmandl) ein und lernt dessen Nachbarin kennen: Susanne Koron (Gunda Ebert, Väter) hat eine persönliche Verbindung zum Überfall und schwört Rache. Bald ist nicht nur die Polizei, sondern sind auch Susanne und Rick hinter dem ewigen Träumer her.


BATIC:
Herr Kammermeier, erzählen Sie mir etwas über Ihren Sohn?

KAMMERMEIER:
Er war immer schon ein Träumer.

Im Herzen Eiszeit dreht sich um einen Mann, der eigentlich nur in Ruhe in die Welt seiner Vergangenheit zurückkehren möchte, während alle anderen genau diese Vergangenheit lieber ungeschehen machen wollen. Weil in seinem emotionslosen Umfeld niemand seine Nostalgie teilt, wird Kammermeier zur isolierten und melancholischen Figur, was Reiser mit seiner abgeklärten Darstellung akzentuiert. Wir können den Rückkehrer verstehen, aber zur Identifikation mit ihm reicht es nicht. Dafür greift der Film mit dem nicht erwachsen werden wollenden Anarchisten einfach viel zu tief in die Klischeekiste: Kammermeier läuft in einer plakativen, alten Lederjacke herum, auf deren Rücken ein verblasstes großes A im Kreis prangert, und zieht sich ständig in irgendwelche leerstehenden Häuser zurück.

Die Eindimensionalität der Figuren in diesem Krimi aus der Feder von Drehbuchautor Peter Probst (Gefallene Engel) setzt sich auch im Ermittlerduo fort. Dabei fängt der Film in dieser Hinsicht amüsant an, als Leitmayr widerwillig für eine Werbekampagne zu Bayerns Paradepolizisten gekürt wird. Die neue Position stellt sich als besonders ironisch heraus, als die Kommissare bei ihren Recherchen über Kammermeier auf alte Aufnahmen aus einer linksalternativen Kneipe stoßen, auf denen ausgerechnet Leitmayr zu sehen ist.

Da er seine Verbindungen in die Anarchoszene bei seiner Einstellung natürlich verschwiegen hat, bringt die Enthüllung zwar einen Moment der Spannung, doch baut der Tatort keine weiteren solcher Momente darauf auf. Allein Assistent Carlo Menzinger (Michael Fitz), der sich in den ersten Münchner Fällen noch nicht so gut mit den Kommissaren versteht, droht Leitmayr auffliegen zu lassen, kann aber erfolgreich abgelenkt werden.

Darüber hinaus unterhaltsam und erwähnenswert ist der Gastauftritt des extravaganten Modeschöpfers Rudolph Moshammer, der sich selbst spielt und zugleich den Besitzer jener Luxusboutique verkörpert, die Kammermeier mit seinen Kumpanen vor elf Jahren überfiel. Aus heutiger Sicht hat die Sequenz durch den späteren gewaltsamen Tod Moshammers im Jahr 2005 einen makabren Beigeschmack, für den die Filmschaffenden freilich nichts können. Aber auch sonst zieht sich durch die ganze Folge ein sentimentales, fast unheimliches Gefühl, dass das am Ende erklingende, wehmütige Titellied „Träume“ von Rio Reiser unterstreicht. Aus heutiger Sicht scheint der Titel dieser Tatort-Folge dafür nur umso passender gewählt.

Bewertung: 5/10


Kommentare

Neue Kommentare werden nicht sofort veröffentlicht, sondern in der Regel binnen kurzer Zeit durch die Redaktion freigeschaltet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert