Der Unterschied zwischen Tatort und Polizeiruf 110

Der Tatort und der Polizeiruf 110 sind die beliebtesten deutschen Krimireihen. Doch was unterscheidet die Erfolgsformate eigentlich voneinander? Und was verbindet sie?


Gerade von Gelegenheitszuschauern werden die erfolgreichsten Krimireihen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten häufig verwechselt. Das kommt nicht von ungefähr: Der Tatort und der Polizeiruf 110 teilen zahlreiche Gemeinsamkeiten.

Betrachten wir zunächst diese:

1. Gemeinsamkeiten von Tatort und Polizeiruf 110

Sowohl der Tatort als auch der Polizeiruf 110 existieren seit über 50 Jahren und sind damit die populärsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Krimireihen. Die Einschaltquoten liegen heutzutage meistens zwischen 7 und 14 Millionen Zuschauern – je nachdem, welches Team ermittelt und welche Sendungen, Sportevents oder Shows parallel auf anderen Kanälen gezeigt werden. Im Allgemeinen ist das Zuschauerinteresse am Tatort höher – auch der Polizeiruf 110 kommt aber im Vergleich zu anderen TV-Produktionen auf hervorragende Einschaltquoten.

Während der Tatort 1970 in der Bundesrepublik als Antwort der ARD auf die erfolgreiche ZDF-Serie „Der Kommissar“ ins Leben gerufen wurde, wurde der Polizeiruf 110 ein Jahr später als Antwort der DDR auf den im Westen populären Tatort vom Deutschen Fernsehfunk (DFF) in Auftrag gegeben. Nach Auflösung des DFF führten die ARD-Anstalten das Format im wiedervereinigten Deutschland weiter. In der ersten Tatort-Folge Taxi nach Leipzig von 1970 wird ironischerweise grenzüberschreitend ermittelt: Der Hamburger Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter) fährt von Frankfurt in die DDR, nach West-Berlin und Leipzig. Die erste Polizeiruf-110-Folge Der Fall Lisa Murnau datiert von 1971 und thematisiert den Überfall auf eine Postfiliale.

Szene aus dem Tatort "Taxi nach Leipzig" von 1970 – natürlich mit Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter, r.).
Szene aus dem Tatort „Taxi nach Leipzig“ von 1970 – natürlich mit Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter, r.).

Die neuen Folgen beider Krimireihen feiern fast immer am Sonntag um 20.15 Uhr in der ARD ihre TV-Premiere. Anders als bei vielen anderen Formaten verzichtet Das Erste (noch) auf eine Vorab-Bereitstellung in seiner Mediathek, die in Zeiten des Streamings immer wichtiger wird, um junge Zuschauer zu erreichen – der feste Termin am Sonntagabend ist beim deutschen Publikum Kult. Doch nicht jede neue Folge läuft zwingend an einem Sonntag: An Neujahr, am Ostermontag, am Pfingstmontag und am 2. Weihnachtstag werden heutzutage in aller Regel ebenfalls neue Folgen der Krimireihen ausgestrahlt.

Beide Krimiformate dauern in der Regel knapp 90 Minuten, starten also nach der Tagesschau und enden gegen 21.45 Uhr. Diese Sendedauer hat sich allerdings erst im Laufe der Jahrzehnte etabliert: Früher gab es auch deutlich längere und kürzere Folgen. Die kürzeste Tatort-Folge Der Boss von 1971 dauert nur 56 Minuten. Der fürs Kino produzierte Tschiller: Off Duty feierte 2018 seine TV-Premiere und ist mit deutlich über zwei Stunden Spielzeit die längste Episode. Im Fernsehen lief eine 130 Minuten lange Fassung, die Uncut-Version aus dem Kino dauert sogar 140 Minuten. 

Neue Tatort-Folgen und neue Polizeiruf-110-Folgen erzählen in der Regel in sich abgeschlossene Kriminalfälle – beim Publikum wird also keine Kenntnis früherer Episoden vorausgesetzt. Wenngleich dies im Volksmund häufig verwechselt wird, sind Tatort und Polizeiruf 110 daher keine Krimiserien, sondern Krimireihen, bei denen die einzelnen Folgen deutlich besser als Solo-Filme funktionieren als bei einer Serie.

Seit einigen Jahren werden in manchen Städten aber auch zusätzliche folgenübergreifende Handlungsstränge erzählt, die sich meist um das Privatleben der Ermittler oder deren Verhältnis zueinander drehen – etwa im Tatort aus Dortmund, Berlin oder Saarbrücken und im Polizeiruf 110 aus Rostock. Diese Entwicklung resultiert auch aus Zugeständnissen an das Stammpublikum von Netflix & Co. bzw. aus dem Siegeszug des Streamings und serieller Formate nach der Jahrtausendwende.

Verbindet eine gemeinsame Kindheit: Schürk (Daniel Sträßer) und Hölzer (Vladimir Burlakov) im Saarbrücker "Tatort".
Bild: SR/Manuela Meyer Verbindet eine gemeinsame Kindheit: Schürk (Daniel Sträßer) und Hölzer (Vladimir Burlakov) im Saarbrücker „Tatort“.

Für beide Krimireihen sind heutzutage außerdem die sich abwechselnden, festen Ermittlerteams in verschiedenen Städten kennzeichnend. In beiden Krimireihen tauschen die Kriminalisten Sonntag für Sonntag ohne eine festgelegte Reihenfolge durch: Während einige Tatort-Kommissare im Schnitt dreimal im Jahr auf Sendung gehen, ermitteln andere nur einmal im Jahr oder noch seltener – je nach Stadt bzw. Sendeanstalt der ARD. Auch im Polizeiruf liegen zwischen zwei Einsätzen eines Teams oft viele Monate oder gar mehr als ein Jahr.

2. Unterschiede zwischen Tatort und Polizeiruf 110

Wenngleich die beiden Krimireihen in den Jahren 1970 und 1971 fast zeitgleich ins Leben gerufen wurden (s.o.), unterscheiden sich der Tatort und der Polizeiruf 110 bereits auf den ersten Blick allein durch die Anzahl ihrer Folgen. Während der Tatort 2016 mit der Neuauflage von Taxi nach Leipzig seine 1000. Ausgabe feierte und es mittlerweile auf über 1.200 Folgen bringt, kommt der Polizeiruf 110 „nur“ auf gut 400 Ausgaben.

Diese Entwicklung nahm nach der deutschen Wiedervereinigung an Fahrt auf: Lag der Tatort Anfang der 90er Jahre mit etwa 100 Folgen vorn, stieg die jährliche Produktion neuer Tatort-Folgen in den Jahren danach rasant an. Beim Polizeiruf 110 hingegen blieb die Anzahl der Neuproduktionen nach der „Wende“ stabil: Wie bereits zu DDR-Zeiten entstehen heute rund sechs bis acht neue Folgen pro Jahr, während meist mehr als 35 neue Tatort-Folgen im Jahr produziert und ausgestrahlt werden.

In engem Zusammenhang mit der viel geringeren Anzahl an Neuproduktionen steht auch die deutlich niedrigere Anzahl der Ermittlerteams und Städte, die heutzutage im Polizeiruf 110 als Schauplatz dienen. Während es der Tatort auf rund 20 Städte, Teams und Solo-Kommissare bringt, ermitteln im Polizeiruf 110 derzeitig „nur“ fünf Teams und Solo-Kommissare – in Rostock, Magdeburg, Halle und München sowie im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Am Tatort hingegen beteiligen sich auch nicht nur der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), der Norddeutsche Rundfunk (NDR), Radio Berlin-Brandenburg (RBB) und der Bayerische Rundfunk (BR), sondern auch der Westdeutsche Rundfunk (WDR), der Südwestrundfunk (SWR), der Hessische Rundfunk (HR), der Saarländische Rundfunk (SR) und Radio Bremen sowie der Österreichische Rundfunk (ORF) und das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).

Das derzeitig einzige westdeutsche Duo im Polizeiruf 110: Dennis Eden (Stephan Zinner) und Cris Blohm (Johanna Wokalek) aus München.
Bild: BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen Das derzeitig einzige westdeutsche Duo im Polizeiruf 110: Dennis Eden (Stephan Zinner) und Cris Blohm (Johanna Wokalek) aus München.

Zu DDR-Zeiten gab es noch gar keine festen Ermittlerteams: Die Kriminalisten wurden weitestgehend ohne festes Muster zusammengestellt – sieht man davon ab, dass in Folgen mit dem von Peter Borgelt gespielten Oberleutnant Fuchs dieser immer auch der Chefermittler war. Beim Tatort war dies bereits in den 70er Jahren anders: Kriminalisten wie der Kieler Kommissar Klaus Finke (Klaus Schwarzkopf), der Essener Kommissar Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) oder der Münchner Kommissar Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) hatten schon bald eine große Fangemeinde und ermittelten in einer festen Stadt. Im Polizeiruf 110 hingegen reichten die Einsatzorte der Ermittler von Sachsen bis zur Ostsee, wurden in den Krimis aber ohnehin nicht konkret genannt.

Beschränkten sich die Schauplätze im Polizeiruf 110 bis 1994 auf die neuen deutschen Bundesländer, steuerten der SDR, der BR, der WDR und der HR in den 90er Jahren ebenfalls Beiträge bei. Auch heute gibt es mit dem Polizeiruf 110 aus Bayern eine Polizeiruf-Ausgabe aus dem früheren Westdeutschland. Der erste „westdeutsche Polizeiruf“ war der Fall Gespenster und spielte 1994 in Nürnberg. Umgekehrt startete der Tatort nach der Wiedervereinigung auch mit Produktionen im Osten der Bundesrepublik: Der erste „ostdeutsche Tatort“ heißt Ein Fall für Ehrlicher, spielt in Dresden und feierte 1992 seine TV-Premiere in der ARD.

Kain (Bernd-Michael Lade) und Ehrlicher (Peter Sodann) treffen ihren Münchner Kollegen Veigl (Gustl Bayrhammer).
Bild: MDR Kain (Bernd-Michael Lade) und Ehrlicher (Peter Sodann) treffen ihren Münchner Kollegen Veigl (Gustl Bayrhammer).

Die beiden Krimireihen unterscheiden sich aber nicht nur im Hinblick auf die Anzahl ihrer Neuproduktionen, Städte und Teams, sondern waren lange Zeit auch inhaltlich klar voneinander zu trennen. Rückte im Tatort auch schon in den 70er Jahren die Ermittler als Person in den Mittelpunkt, lag der Fokus im Polizeiruf 110 von Beginn an mehr auf der polizeilichen Ermittlungsarbeit und auf den Motiven der Täter.

Während in den allermeisten Tatort-Folgen mindestens ein Mordfall aufgeklärt wird, klammerte der Polizeiruf 110 dieses Kapitalverbrechen zu DDR-Zeiten aus. Die filmische Auseinandersetzung mit Kriminalität passte nicht zum ideologisch erwünschten Gesellschaftsbild. Statt Mord und Totschlag wurden im Polizeiruf 110 harmlosere Verbrechen wie Einbrüche, Erpressungen oder Diebstähle, aber auch Vergewaltigungen thematisiert. Heutzutage ist dies nicht mehr so: Die beiden Krimireihen sind mit Blick auf die Art der Verbrechen, die Erzählstruktur und Dramaturgie kaum noch voneinander zu unterscheiden. Tatort-Folgen ohne Mord sind allerdings nach wie vor äußerst seltene Ausnahmen.

Darüber hinaus gibt es natürlich auch rein formale Unterschiede: Während jede Tatort-Folge mit dem berühmten Vorspann mit den Augen von Horst Lettenmayer, dem sich aufbauenden Fadenkreuz, einer davonlaufenden Person und der Titelmusik von Klaus Doldinger beginnt und dieser im Laufe der Jahrzehnte nur leicht verändert wurde, hatte der Polizeiruf 110 in diesem Zeitraum schon mehrere, völlig unterschiedliche Vorspannsequenzen. Auch die Musik wurde bereits nach wenigen Episoden ausgetauscht und 1981 komplett neu eingespielt.

3. Wenn der Tatort den Polizeiruf 110 trifft

Bisher sind die beiden erfolgreichsten deutschen Krimireihen nur einmal im Rahmen einer senderübergreifenden Co-Produktion direkt aufeinander getroffen – und zwar kurz nach Öffnung der Mauer im Tatort Unter Brüdern aus dem Jahr 1990.

Die beliebten Duisburger Tatort-Kommissare Christian Thanner (Eberhard Feik) und Horst Schimanski (Götz George) finden darin eine nackte Männerleiche am Hafen und können diese dank einer Tätowierung als früheren Stasi-Offizier identifizieren. Sie kontaktieren ihre Polizeiruf-110-Kollegen Thomas Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) und Hauptmann Fuchs (Peter Borgelt) aus dem früheren Ost-Berlin, die sich daraufhin in den Westen begeben.

Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) und Fuchs (Peter Borgelt) treffen Schimanski (Götz George) und Thanner (Eberhard Feik).
Bild: rbb/WDR/Lange Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) und Fuchs (Peter Borgelt) treffen Schimanski (Götz George) und Thanner (Eberhard Feik).

Bis heute ist dieser Krimi die einzige senderübergreifende Co-Produktion zwischen Tatort und Polizeiruf 110geblieben. In der vom Hessischen Rundfunk in Auftrag gegebenen Polizeiruf-Folge Die Mutter von Monte Carlo hatte der ebenfalls in HR-Diensten stehende Frankfurter Tatort-Kommissar Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) darüber hinaus einen Gastauftritt.

Crossover-Produktionen innerhalb der beiden Krimireihen gibt es dafür häufiger – im Tatort etwa treffen in Quartett in Leipzig, Rückspiel, Kinderland und Ihr Kinderlein kommet die Kölner „Wessis“ Ballauf und Schenk auf die Leipziger „Ossis“ Ehrlicher und Kain bzw. Keppler und Saalfeld. Im Polizeiruf 110 schickt der NDR seine Rostocker Ermittler Bukow und König in der Doppelfolge Wendemanöver (1) und Wendemanöver (2) gemeinsam mit den MDR-Kollegen Brasch und Drexler aus Magdeburg auf Täterfang.