Folge: 1100 | 18. August 2019 | Sender: MDR | Regie: Stephan Wagner
Bild: MDR/W&B Television/Daniela Incoronato |
So war der Tatort:
Nicht ganz so furchteinflößend wie der packende Tatort Das Nest.
Und doch muss sich der zweite gemeinsame Fall der Dresdner Oberkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) mit Blick auf den hohen Unterhaltungswert nicht vor dem erstklassigen Vorgänger verstecken. Das Grauen in Nemesis ist subtilerer Natur, offenbart sich aber erst in der zweiten Filmhälfte: Bevor sich der solide Sonntagskrimi zum wuchtigen Psychodrama wandelt, sieht nämlich alles nach einem klassischen Whodunit in der Gastronomieszene aus.
Ins Gras beißen muss einleitend ein Mann, der in seinem Lokal offenbar Geld gewaschen hat und nicht nur gut mit Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) bekannt war, sondern auch oft Winklers Vater Otto (Uwe Preuss, auch bekannt aus dem Rostocker Polizeiruf 110) in seinem schicken Restaurant in der Altstadt begrüßen durfte: Joachim „Jojo“ Benda sitzt erschossen in seinem Büro – hingerichtet mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe, bei dem der vermutlich aus Mafiakreisen stammende Täter nichts dem Zufall überlassen wollte.
Wenn in einem Tatort alles eindeutig nach organisierter Kriminalität aussieht und die Filmemacher hinter dem Rücken der Ermittler einen zweiten Handlungsstrang aus dem privaten Umfeld des Opfers eröffnen, weckt das jedoch eine gewisse Skepsis – so auch bei Gorniak, die Bendas Leiche mit Gerichtsmediziner Falko Lammert (Peter Trabner) unter die Lupe nimmt.
GORNIAK:
Sehr präzise ausgeführt.
LAMMERT:Tja, sicher ist sicher.
GORNIAK:
Sicher ist nur, dass nichts sicher ist.
Regisseur und Drehbuchautor Stephan Wagner (Hundstage), der seinen fünften Tatort gemeinsam mit Mark Monheim (Déjà-vu) geschrieben hat, inszeniert eine hervorragend besetzte Kreuzung aus routiniertem Krimi und beklemmendem Psychodrama, die allerdings unter ihrer Vorhersehbarkeit und dem fehlenden Tiefgang leidet.
Der offensichtlich falschen Fährte um Bendas Geschäfte mit dem zwielichtigen Levon Nazarian (Marko Dyrlich, Ich töte niemand) und seine Beziehung zu den (früheren) Führungskräften der Kripo räumt Wagner zwar ausgiebig Zeit ein, doch schürt das letztlich kaum zusätzliche Brisanz: Der pensionierte Ex-Polizist Otto Winkler bügelt kritische Nachfragen seiner argwöhnischen Tochter einfach ab, während der genervte Schnabel in aller Knappheit einräumt, nicht jede Rechnung ordnungsgemäß bezahlt zu haben.
Hochinteressant gestaltet sich aber das, was Gorniak und Winkler zunächst verborgen bleibt und lange Zeit nur der Zuschauer sehen darf: Im Hause des Opfers liegt einiges im Argen, denn die enge und etwas eigenartige Beziehung der trauernden Witwe Katharina Benda (stark: Britta Hammelstein, Der Mann, der lügt) zu ihren geschockten Söhnen Viktor (ordentlich: Juri Sam Winkler, Unter Kriegern) und Valentin (bemüht: Caspar Hoffmann) wirft Fragen auf, die Nemesis zu einer unheimlich reizvollen Angelegenheit machen.
Dass Kriminaltechniker Ingo Mommsen (Leon Ullrich) dabei den Fachbegriff Gaslighting ins Spiel bringt, hilft allerdings nur bedingt weiter: Warum darf Valentin im Bett der Mutter schlafen, der verängstigte Viktor aber nicht? Warum weiß Valentin seinen älteren Bruder so geschickt zu manipulieren? Und was geschah wirklich, als Schutzgelderpresser die Familie unter Druck setzten? Vielsagende Sätze nehmen manches vorweg, so dass sich am Ende nicht die ganz große Verblüffung einstellt, und doch weiß das bedrückende Krimidrama besonders im Mittelteil mitzureißen.
Zu den beklemmendsten Momenten im 1100. Tatort zählt eine Sequenz, die in ihrer Perfidität auch Funny Games gut zu Gesicht gestanden hätte: Die psychisch labile Benda zwingt ihren bedauernswerten Sohn dazu, nackt in die Badewanne zu steigen – das Wasser aber ist noch so heiß, dass sich das Kind sofort verbrühen würde. Echten Zugang zum Seelenleben der launischen Mutter finden wir aber auch aufgrund der fehlenden Vorgeschichte nicht – was schade ist, ist sie doch die Schlüsselfigur dieses Krimis.
Dennoch ist der Dresdner Tatort nach den durchwachsenen Anfangsjahren (wir denken zurück an den missglückten Erstling Auf einen Schlag oder den nervtötenden Cyberkrimi Level X) auf einem sehr guten Weg – und die neu formierten Figuren im Präsidium wirken so eingespielt, als würden sie schon jahrelang aufeinander losgelassen.
Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort „Ausgezählt“
Der Tatort aus Dresden – diesmal seiner Zeit voraus!
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