Folge: 1139 | 4. Oktober 2020 | Sender: RBB | Regie: Lena Knauss
Bild: rbb/Stefan Erhard
So war der Tatort:
Am Ende weit weniger wendefixiert, als es die TV-Premiere am Abend nach dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit und das erste Filmdrittel vermuten lassen.
Denn Drehbuchautor Christoph Darnstädt, der zuletzt das Skript zum ebenfalls historisch angehauchten Berliner Tatort Der gute Weg beisteuerte, schlägt bei seiner zwölften Arbeit für die Krimireihe zwar auch den Bogen in die Jahre vor und nach der Wiedervereinigung, geht aber noch ein ganzes Stück weiter zurück. Zurück in das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte.
Er erzählt einleitend vom Mord an Bauunternehmer Klaus Keller (Rolf Becker, Am Ende des Tages), der wenige Stunden nach dem Reinfeiern in seinen 90. Geburtstag erschossen aufgefunden wird – und dabei ein Schild um den Hals trägt, wie es einst die SS entdeckten Deserteuren als Warnung für Gleichgesinnte um den Hals hängte, wenn sie diese in den letzten Monaten des längst verlorenen Zweiten Weltkriegs vor aller Augen exekutierte.
ICH WAR ZU FEIGE, FÜR DEUTSCHLAND ZU KÄMPFEN.
Stammt der Mörder aus der rechten Szene? Oder soll ein anderes Tatmotiv vertuscht werden? Die Berliner Hauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) wissen zunächst nicht, ob sie zuständig sind – doch bevor die im Tatort durchaus zu erwartenden (und selten originellen) Querelen mit Staatsschutz-Kollegin Klotz (Bettina Hoppe, Hinter dem Spiegel) so richtig begonnen haben, sind sie auch schon wieder vorbei.
KLOTZ:
Bleibt bei euch, versprochen. Die Kripo hat ja schon bei den NSU-Morden so brillant ermittelt.
Drehbuchautor Darnstädt und Regisseurin Lena Knauss haben etwas Anderes mit ihrem Publikum vor, und das fühlt sich bisweilen wie eine Geschichtsstunde im Rekordtempo an: Nationalsozialismus, Bund Deutscher Mädel, Hitlerjugend. Gestapo, Volkssturm, Shoa. Puh. Eine zweifellos wichtige Unterrichtseinheit, die den Kriminalfall aber stellenweise erdrückt – das typische Problem vieler Themenkrimis, die die ARD aus einem ganz bestimmten Anlass angesetzt hat.
Ähnlich wie der leicht stärkere Saarbrücker Tatort Das fleißige Lieschen, der ein halbes Jahr zuvor seine TV-Premiere feierte, bezieht Ein paar Worte nach Mitternacht aus dem Geheimnis um eine Schreckenstat zu NS-Zeiten aber zugleich seinen größten Reiz: Antriebsfeder der Handlung ist nicht nur die Täterfrage im Hier und Jetzt, sondern auch die Auflösung des Rätsels, was der ermordete Klaus Keller seinen Geburtstagsgästen hatte mitteilen wollen, um sein Gewissen endlich zu erleichtern.
Auch der Bruder des Mordopfers, Gert Keller (Friedhelm Ptok), segnet im 1139. Tatort früh das Zeitliche: Wirtschaftswunderkind und Wendegewinner der eine, SED-Funktionär und Wendeverlierer der andere. Doch so unterschiedlich die Wege der Brüder nach dem Bau der Berliner Mauer verliefen: Sie teilen ihre Vergangenheit in der HJ und haben etwas Schreckliches getan. Nur was?
Das klärt sich ebenso spät wie das Tatmotiv – und auch der Mörder ist in diesem Tatort ein Anderer, als viele Zuschauer vermuten dürften. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Kreis der Verdächtigen so groß ausfällt: Mit Kellers Sohn Michael (Stefan Kurt, Todesschütze) und dessen Gattin Maja (Marie-Lou Sellem, Der höllische Heinz), Kellers Enkel Moritz (Leonard Scheicher) und dessen Freundin Ruth (Victoria Schulz), die auch mit Karow flirtet, kommen gleich vier Personen ernsthaft als Täter infrage und führen die Kommissare gehörig an der Nase herum.
Dass sich nach dem spannenden Finale zwar ein überzeugender, aber überfrachteter Gesamteindruck einstellt, hat auch damit zu tun, dass die Filmemacher ihr Figurenkonstrukt noch erheblich erweitern: Sie quetschen die Familie des zweiten Toten mit in den Plot, obwohl diese für die Handlung bei näherer Betrachtung kaum eine Rolle spielt – Ex-Tatort-Kommissar Jörg Schüttauf in seiner Rolle als völkisch orientierter Cousin Fredo Keller eingeschlossen. So fehlt es einigen Nebenfiguren an Tiefe und auch die Beziehung zwischen Moritz und Ruth wird recht oberflächlich behandelt.
Ein paar Worte nach Mitternacht ist dennoch – nicht zuletzt aufgrund des wichtigen Themas – eine gelungene und mit Blick auf das Berliner Team hochinteressante Folge: Rubin kifft mit einem neuen Lover in der Badewanne, Karow stellt uns seine konservativen Eltern beim Tafelspitz-Dinner vor und Kommissarsanwärterin Anna Feil (Carolyn Genzkow) feiert in diesem Tatort leise ihren Abschied (mehr dazu in unserem Artikel).
Ich halte diese Tatort-Folge ebenfalls für wirklich toll. Meiner Meinung nach ist der Spagat zwischen einem spannenden Kriminalfall und der Geschichtsstunde hervorragend gelungen. Sowohl die Frage nach den vergangenen Untaten des Toten wie auch der Mörder bleiben lange ein Geheimnis und sind nicht vorherzusehen. Einmal enthüllt, gehen beide unter die Haut. Damit ist das Ende absolut herausragend.
Obwohl die Familie des zweiten Toten kaum eine Rolle spielt, beschert dieser Handlungsstrang dem Zuschauer bzw. der Zuschauerin doch einige ergreifende Momente. Toll ist auch, dass wir sowohl Rubin als auch Karow etwas näher kennenlernen dürfen.
Kleinere Schwächen hat dieser Krimi dennoch: So will etwa nicht ganz einleuchten, warum sich Karow so an der Nase herumführen lässt. Auch fand ich die schauspielerischen Leistungen einiger Beteiligten eher mittelmäßig.
Unter dem Strich entfaltet dieser Tatort dennoch eine große Wucht und wird dem Bildungsauftrag dabei geschickt mehr als gerecht. Das rechtfertigt meiner Ansicht eine Bewertung mit 8/10 Punkten. Stark!
Ausgelutschtes Thema, ansonsten miese Stimmung und Anmache zwischen nahezu allen Beteiligten. Da kommt keine Tatort Freude auf. Bitte verschont uns von dieser ewigen Erziehung
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