Einen Kriminalisten persönlich in den Fall zu involvieren, ist im Jahr 2023 nichts Ungewöhnliches mehr – erst zwei Wochen zuvor war im Dresdner Tatort
Was ihr nicht seht und davor in vielen weiteren Fadenkreuzkrimis Ähnliches zu beobachten. Auf den ersten Blick ist der 1250. Tatort auch ein durchaus klassischer, sommerlicher Whodunit, dem ein nächtlicher Prolog mit Zeilen aus
Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Lethe“ vorangestellt wird. Denn neben Döbeles Gattin kommen auch ihr Sohn Thomas (Tim Bülow), der Vater eines weiteren verstorbenen Jugendfreundes, Hans Lentowski (Paul Fassnacht,
Es lebe der König!), und natürlich der aufgewühlte Vogt selbst als Täter infrage.
Vergebung ist aber viel mehr als ein 08/15-Tatort vom Reißbrett. Jürgen Hartmann bezeichnete den Film im
→ Interview als „Liebeskrimi“, und ja: Dieser Tatort hat Herz. Bei den stimmungsvollen Rückblenden in Vogts Jugend atmet er zudem wunderbare 80er-Jahre-Nostalgie.
BRAVO– und
praline-Heftchen in der Nachttischschublade, Bonnie Tylers
„Total Eclipse of the Heart“ aus dem Walkman und ein
Tron-Poster an der Wand des Jugendzimmers: Wer die Zeit der Lederkrawatten und Schulterpolster miterlebt hat, dem dürfte hier warm ums Herz werden.
Die Blicke zurück in die Zeit der
Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm sind zugleich eine wichtige Antriebsfeder des Films, schließlich will nicht nur der Todesfall im Hier und Jetzt, sondern auch ein Geheimnis von 1983 aufgeklärt werden. Vogts zunehmend schmerzhafte Erinnerungen, die Stück für Stück zurückkehren, und sein reizvolles Versteckspiel führen auch zu Kuriositäten – etwa wenn er hinter einem Baum in Deckung geht, als ihn der wenige Meter weiter stehende Bootz anruft. Der Charakterzeichnung ist der Fokus auf den schwäbischen Rechtsmediziner unheimlich dienlich, wir lernen ihn so intensiv kennen wie nie zuvor. Der Film füllt eine Leerstelle, auf die sich aufbauen ließe.
Wer elektrisierende Spannungsmomente, eine vertrackte Mördersuche oder gar spektakuläre Action erwartet, wird mit diesem Sommerkrimi zwar nicht glücklich – mitreißend ist die tragische und emotional arrangierte Geschichte aber jederzeit. Das liegt auch an den überzeugenden Jungdarstellern: Die Newcomer Elena Georgotas, Manolo Bertling, Xari Wimbauer und Immanuel Krehl spielen die vier Freunde in Vogts Jugend und empfehlen sich zu den Klängen von David Bowies
„Heroes“ für weitere TV-Auftritte. Auch der trockene Stuttgarter Tatort-Humor kommt nicht zu kurz: Lannert und Bootz witzeln etwa über Feinstaub aus Lannerts braunem Porsche oder die Vorteile einer gemeinsamen Alters-WG. Herrlich.
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