Folge: 1260 | 4. Februar 2024 | Sender: BR | Regie: Thomas Stiller
Hinter Gittern.
Das Wunderkind spielt nämlich zu großen Teilen in einem Münchner Gefängnis (gedreht wurde in der
JVA Landshut) und tritt damit in die Fußstapfen von packenden Knastkrimis wie
Franziska oder
Tollwut, die mit steilen Spannungskurven punkteten. Aber kann der 94. Tatort mit den altgedienten Hauptkommissaren Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), die erneut von Oberkommissar Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) unterstützt werden und im Januar 2024 das Ende ihrer über 30-jährigen Tatort-Ära ankündigten (
weitere Informationen), da mithalten?
Nicht ganz. Regisseur und Drehbuchautor Thomas Stiller (
Bombengeschäft), der bereits zum fünften Mal für die Krimireihe am Ruder sitzt, mag aus dem reizvollen und in Krimis durchaus gern bemühten Mikrokosmos Knast nicht ganz so viel herauszuholen wie die Filmemacher in den genannten Vorgängern. Seine fiebrige JVA-Story kreuzt er mit einem zwar rührenden, aber nicht immer glaubwürdigen Sorgerechtsdrama, dessen emotionale Wucht nur stellenweise aufblitzt.
Schon der Prolog beginnt nicht in der JVA, sondern in einem Konzertsaal: Der junge Ferdinand (Phileas Heyblom) stellt bei einem Talentwettbewerb in Anwesenheit seiner stolzen Pflegeeltern Viola (Sarah Bauerett,
Das ist unser Haus) und Georg Seiffert (Lasse Myhr,
Echolot) seine Ausnahmequalitäten am Klavier unter Beweis. Ebenfalls anwesend ist sein straffällig gewordener Erzeuger: Dieter Scholz (Carlo Ljubek, mimte im herausragenden Schwarzwald-Tatort
Damian den Aushilfskommissar Luca Weber). Nach dem Konzert kommt es zwischen den Vieren zu einer frostigen Begegnung und Scholz kehrt nach seinem Freigang zurück in die JVA. Dort hat er noch wenige Tage Haft abzusitzen, ehe er seinen Jungen gegen dessen Willen zurück zu sich nach Hause holen will.
Im Knast erleben wir eine Viertelstunde den Alltag hinter schwedischen Gardinen, der geprägt ist von Gewalt, Drohungen und krummen Geschäften: Einflussreichster Knacki ist der rechtsradikale Roland Gumbert (gewohnt grandios: Ralph Herforth,
Kopfgeld), der Scholz auf seiner Zelle verprügelt, Araber „Kamelficker“ nennt und in der Kantine der Gefangenen keine Gefangenen macht. Kurz darauf wird der Unsympath in der Dusche erstochen. Und Batic und Leitmayr, die erst nach 18 Minuten die Bildfläche betreten, stellen beim Sichten des Überwachungsmaterials in Anwesenheit des JVA-Direktors (Thomas Huber,
Gefangen) fest, dass die Digitalisierung in deutschen Gefängnissen sich 2024 ähnlich gestaltet wie in Schulen oder Behörden: desaströs.
GEFÄNGNISDIREKTOR:
Die Anlage ist neu. Wir haben von Video auf digital umgestellt und dies ist leider nicht der erste Ausfall. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern.
LEITMAYR:
Das ist sogar sehr bedauerlich.
Ein starker Auftakt, aber dauerhaft auf Touren kommt der 1260. Tatort in der Folge nicht. Wenngleich sich die Ermittler in der Knastbibliothek einquartieren, ändert sich dadurch wenig: Befragung reiht sich an Befragung, das Ganze könnte genauso gut im Präsidium stattfinden. Auch die Ergebnisse bleiben überschaubar: Wie im Knastkrimi
Wer das Schweigen bricht stoßen die Kommissare auf die übliche Mauer des Schweigens. Niemand hat etwas gehört oder gesehen, niemand will es gewesen sein. Dass Batic zwischendurch Prügel von maskierten Gefangenen bezieht, wirkt wie ein bemühter Versuch, etwas Leben in die Story zu bekommen.
Über Gefangene wie Araber-Anführer Metin Demir (Kailas Mahadevan, mimt Dr. Hakan Özcan im
Ludwigshafen-Tatort), seinen deutschen Rivalen Heiner Berger (Thomas Darchinger,
Frohe Ostern, Falke) oder die korrupte Wärterin Anja Bremmer (Jule Ronstedt,
Unbestechlich) erfahren wir das Nötigste. Es sind zu viele Personen, als dass in einem 90-Minuten-Krimi die Zeit bliebe, ihnen charakterliche Schärfe zu verleihen. Die fehlt auch dem jungen Ahmet Yilmaz (Yasin Boynuince), dessen gesetzestreuer Bruder es Batic zu verdankt, dass er an der Polizeischule studieren darf. Der Zufall im Drehbuch will das so, wirklich nötig ist das nicht.
Das Wunderkind bewegt sich geradlinig voran, während sich außerhalb der JVA-Mauern das Familiendrama entfaltet. Reizvollste Figur ist Dieter Scholz, bei dem wir hin- und hergerissen sind: Auf der einen Seite ist er ein Krimineller, der sein Kind misshandelt hat. Auf der anderen Seite ein besserungswilliger, engagierter Vater, der jeden Stress im Knast meidet und sich nichts sehnlicher wünscht, als seinen Sohn wieder bei sich zu haben. Dessen Ausnahmetalent ist zwar titelgebend für diesen Tatort, spielt aber keine echte Rolle für die Handlung: Wenig würde sich ändern, wäre Ferdinand einfach ein normaler Junge, der sich liebende Eltern wünscht.
Als Whodunit zum Miträtseln funktioniert Das Wunderkind aber sehr passabel, und nach der soliden Doppel-Auflösung platzieren die Filmemacher auch noch eine bittere Schlusspointe in ihrem Tatort. Der Kriminalfall überzeugt, der Cast sowieso. Ansonsten gab es in den drei Jahrzehnten davor aber schon stärkere Tatort-Folgen mit Batic und Leitmayr – und man darf gespannt sein, welchen Abschied sich der Bayerische Rundfunk für seine Kult-Kommissare einfallen lässt.
Bewertung: 6/10
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