Folge 1278
3. November 2024
Sender: MDR
Regie: Jano Ben Chaabane
Drehbuch: Christoph Busche
So war der Tatort:
Bruderfixiert.
Die Dresdner Hauptkommissarin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel), die zum vorletzten Mal an der Seite ihrer aus der Krimireihe ausscheidenden Kollegin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) ermittelt, muss sich in Unter Feuer nämlich intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Genauer gesagt, mit dem Tod ihres Bruders Martin (Markus Riepenhausen): Wie Winklers pensionierter Vater Otto (zum dritten Mal in dieser Rolle dabei: Uwe Preuss, auch bekannt aus dem Rostocker Polizeiruf 110) war Martin einst für die Polizei tätig und wurde im Dienst bei einer Razzia erschossen. An vorderster Front, obwohl er noch ein Frischling war – das warf damals schon Fragen auf.
Drehbuchautor Christoph Busche (dritter Dresdner Tatort nach Rettung so nah und Das kalte Haus) spielt diese Bruderkarte nicht ohne Hintergedanken aus: Der Kriminalfall in der Gegenwart, bei dem einleitend ein Polizist bei einer Routinekontrolle auf einer Landstraße erschossen und ein weiterer lebensgefährlich verletzt wird, ist eng mit dem tödlichen Drama von damals verknüpft. Außerdem ist die persönliche Betroffenheit von Kriminalisten im Tatort für gewöhnlich sehr spannungsfördernd und gerade in den 2020er Jahren ein gerne und viel bemühter Drehbuchkniff. In den Monaten zuvor war er etwa in Diesmal ist es anders, Dein Verlust oder Vergebung zu beobachten.
Unter Regie von Tatort-Debütant Jano Ben Chaabane funktioniert er auch im 1278. Tatort wieder hervorragend und ist überhaupt erst der Anlass, warum Winkler auf eigene Faust Nachforschungen anstellt. Neben den beiden von Kugeln getroffenen Opfern waren auch die Polizistinnen Leila Demiray (Aybi Era) und Anna Stade (Paula Kroh, Das perfekte Verbrechen) bei der Kontrolle vor Ort, ergriffen nach den Schüssen auf ihre Kollegen aber die Flucht. Winkler & Co. fahnden nicht nur fieberhaft nach dem flüchtigen Todesschützen Marek Krug (Max Mauff, Das Monster von Kassel), sondern ermitteln auch gegen die zwei mit sich hadernden Polizistinnen, die Krugs Flucht verhindern oder ihn hätten unschädlich machen können.
Die Spur führt in die vorübergehend in einer alten Kirche mit undichtem Dach und aktivem Glockenturm (!) eingerichtete Polizeiwache von Jens Riebold (Andreas Lust, Die ewige Welle), der wenig Lust auf neugierige Blicke und bohrende Fragen hat. Auch solche Recherchen in den eigenen Reihen gab es in der Krimireihe schon häufig – etwa im Münchner Tatort Macht und Ohnmacht, in der Berliner Doppelfolge Nichts als die Wahrheit oder im Kieler Tatort Borowski und der Fluch der weißen Möwe. Ein echtes Original gibt es dafür nur in Dresden: Kripochef Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) verpasst die ersten 20 Tatort-Minuten wegen einer ungeliebten Familienfeier, krakeelt sich auf 180 durch den Krimi und lässt dabei oft jedes Feingefühl vermissen. Grandios, und ja: kultverdächtig.
Aber auch sonst ist Unter Feuer den oft erzählten Standardmomenten der Krimireihe zum Trotz kein Tatort nach Schema F. Ganz im Gegenteil: Die Filmemacher verzichten auf das Whodunit-Prinzip und setzen auf eine temporeiche Kreuzung aus adrenalinschwangerem Howcatchem und emotionalem Whydunit, bei dem die Fäden in der provisorischen Wache zusammenlaufen. Dreht sich beim Wettlauf gegen die Zeit in den ersten zwei Filmdritteln noch alles um die Jagd auf den flüchtigen Krug, widmet sich das Schlussdrittel der Frage, wie es wohl zu seiner Tat kommen konnte – die Begegnung auf der Landstraße war offenbar kein Zufall.
Handwerklich ziehen Regie und Schnitt dabei alle Register. Einen Sniper-Anschlag in einer leeren Fabrik montieren sie stimmungsvoll und parallel zu Erinnerungen, in denen Winkler die Leiche ihres Bruders in einem Treppenhaus findet, ohne die Montage dem Kitsch preiszugeben. Anders, als es etwa oft im Kölner Tatort zu beobachten ist, werden die Zeitlupen hier nicht überstrapaziert, sondern unaufdringlich dosiert. Zugleich ist die fiebrige Attentat-Sequenz, bei der wir den maskierten Schützen nicht erkennen, ein für die Horizontale im Dresdner Tatort elementar wichtiger Moment.
Was den mit zahlreichen Actionthriller-Elementen durchsetzten Film nicht nur zu einem guten, sondern sogar zu einem sehr guten Tatort macht, ist sein überragendes Finale: Gerade in dem Moment, als sich alles genauso entwickelt, wie wir es angesichts der von Beginn an offen vorgetragenen Affäre zwischen Dienststellenleiter Riebold und Streifenpolizistin Demiray erwarten, schlägt der Krimi noch einen letzten Haken. Der verblüffende, sorgfältig vorbereitete Twist dürfte selbst große Teile des eingefleischten Stammpublikums auf dem falschen Fuß erwischen. Er zählt zu den besten Tatort-Auflösungen der jüngeren Vergangenheit.
Angesichts des hohen Spannungslevels, der einmal mehr prächtig harmonierenden und charismatischen Figuren und der reizvollen Horizontale ist es umso bedauerlicher, dass das weiterhin auf höchstem Niveau agierende Tatort-Trio aus Dresden 2025 zum Duo schrumpft. Einen letzten Fadenkreuzkrimi mit Karin Gorniak wird es mit Herz der Dunkelheit noch geben – und die Erwartungen könnten mit Blick auf die letzten Jahre in Sachsen kaum höher sein.
Bewertung: 8/10
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