Folge 1290
19. Januar 2025
Sender: SWR
Regie: Rudi Gaul
Drehbuch: Rudi Gaul, Katharina Adler
So war der Tatort:
Terroristisch.
Der 34. Tatort mit den Hauptkommissaren Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) steht nämlich ganz im Zeichen einer terroristischen Aktion – und weckt trotz der rechts- statt linksextremen Gesinnung der Täter auch dank seines schwäbischen Schauplatzes Erinnerungen an den Deutschen Herbst, auf dessen Höhepunkt sich die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Attentäter Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin das Leben nahmen. Ein von Verschwörungstheorien umranktes Thema, das bereits Filmemacher Dominik Graf in seinem mutigen Stuttgarter Tatort Der rote Schatten von 2017 verarbeitete und darin seine ganz eigene Version eines möglichen Tathergangs präsentierte.
Der in den 2020er Jahren für die Krimireihe sehr aktive Regisseur Rudi Gaul, der bereits die Stuttgarter Folgen Videobeweis und Vergebung inszenierte und das Drehbuch zu Verblendung wieder zusammen mit Katharina Adler schrieb, erzählt in seinem fünften Tatort ebenfalls von einem rätselhaften Todesfall im Knast, konzentriert sich aber auf eine anderen Handlungsstrang: Bootz besucht in Vertretung des wegen eines Dates verhinderten Lannert eine Kinopremiere, die schon wenige Minuten nach Beginn der Vorstellung von zwei Terroristen gestürmt wird. Karin Urbanski (überragend: Anna Schimrigk, Borowski und das Land zwischen den Meeren) und Steffen Lippert (Christoph Franken, Tollwut) sind bis an die Zähne bewaffnet und nehmen Bootz zusammen mit einem Dutzend weiterer Menschen als Geiseln.
Unter ihnen befinden sich Staatssekretär Hamza Kocoglu (Kais Setti, Zorn Gottes), Polizeipräsident Herbert Ebinger (Christian Koerner, Im gelobten Land), der rechtspopulistische Politiker Dr. Norbert Riss (Christoph Glaubacker, bereits im Stuttgarter Vorgänger Lass sie gehen dabei) und auch die Journalistin Leila Kaiser (Jessica McIntyre, National Feminin): Als standhafte Geisel scheut sie ebenso wie Bootz nicht davor zurück, mit zwei Rechtsextremen, die die Freilassung zweier vermeintlich todgeweihter Gesinnungsgenossen fordern, rechtsstaatliche Prinzipien zu diskutieren. Etwa dann, wenn die verängstigten Geiseln selbst darüber entscheiden müssen, wer von ihnen als nächste das Zeitliche segnet.
Die Filmschaffenden geben uns im 1290. Tatort, dessen temporeich abgespulte Opening Credits in blutroter Schrift einen Vorgeschmack auf das spektakuläre Geschehen geben, kaum Zeit zum Nachdenken – und das ist an mancher Stelle auch ganz gut so. Bei näherer Betrachtung fiele etwa auf, dass ein Kino von derartiger Größe über einen zweiten (Not-)Ausgang verfügen müsste, der die Lage für die Terroristen verkomplizieren würde. Erzählerisch schwerer ins Gewicht als solche Schönheitsfehler, die zum Wohle der steilen Spannungskurve ohnehin kaum zu vermeiden sind, fällt allerdings das unstimmige Verhältnis zwischen der Welt im Kinosaal und der Welt da draußen – denn diese Welten drehen sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Während die Geiselnahme im Lichtspielhaus (gedreht wurde in der Kinemathek Karlsruhe) in gefühlter Echtzeit spielt, erledigen Lannert und Rechtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) im nächtlichen Stuttgart Jobs, für die sie wohl normalerweise mehrere Tage benötigen würden – und das bei schwierigen Verfügbarkeiten zu später Abendstunde. Eine Fahrt in die JVA und zurück, die Befragung dreier Häftlinge, Video- und Aktensichtungen, Telefonate mit Urbanski, ein Treffen mit Anwältin Milagros von Wellersdorf (Heike Hanold-Lynch, Borowski und das Land zwischen den Meeren) und sogar die Produktion eines Videos mit Innenminister Christian Pietz (Nicolas Rosat) – all das findet in Verblendung in einem bemerkenswert kurzen Zeitfenster statt.
Dem großen Vergnügen tut das keinen Abbruch, denn Spaß macht der fiebrige Popcorn-Thriller jederzeit: Im Fahrwasser großer Geiseldrama-Thriller wie Hundstage oder Verhandlungssache spielen die Filmschaffenden die Genreklaviatur mitreißend durch. Schweißtreibende Verhandlungen mit den Terroristen, das Pochen beider Seiten auf Einhalten der Abmachungen, Psychospielchen am Telefon und heimliche Manöver von SEK und Bootz, die den Kriminellen verborgen bleiben: Langweilig wird es keine Sekunde. Die frühe Verletzung des Terroristen Lippert, dem Bootz in Notwehr eine Kugel in den Bauch jagt, bringt zudem eine Unbekannte ins Spiel – bis zuletzt scheint nicht ausgeschlossen, dass ich der dringend medizinische Hilfe benötigende Mann noch auf die andere Seite schlägt.
Auf einen wirklich verblüffenden Wendepunkt (etwa einen Wolf im Schafspelz unter den Geiseln) warten wir allerdings genauso vergeblich wie auf eine fiese, versteckt gehaltene Trumpfkarte der Terroristen: Der mit zahlreichen Split-Screens aufgepeppte Tatort Verblendung steuert packend und kompromisslos, wenn auch recht geradlinig auf seinen Showdown zu.
Bewertung: 8/10
Drehspiegel: Zwei neue Stuttgarter Folgen sind schon abgedreht
Ausblick: Dieser Tatort läuft am nächsten Sonntag
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