Folge 1274
29. September 2024
Sender: HR
Regie: Till Endemann
Drehbuch: Michael Proehl, Dirk Morgenstern
So war der Tatort:
Kunstvoll – und voller Kunst.
Denn während der Titelreim Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n an eine berühmte Zeile aus Robert Gilberts Musical „My Fair Lady“ angelehnt ist, wähnen wir uns schon in der Eröffnungssequenz in einem romantischen Gemälde: Der Psychotherapeut Tristan Grünfels (Matthias Brandt, Absturz) steht auf einer malerischen Blumenwiese, die Kamera schwebt um ihn herum. Grünfels schaut uns durch die Vierte Wand in die Augen, dann spricht Matthias Brandt aus dem Off mit uns über seine Figur. Eine wunderbar überhöhte Ouvertüre, die ein jähes Ende findet. Sie gleicht der Einleitung eines Märchenerzählers, der sein Publikum auf eine phantastische Reise mitnehmen möchte. Und genau das macht der Tatort dann auch.
Grünfels ist der menschliche Dreh- und Angelpunkt eines mitreißend arrangierten und nicht nur optisch herausragenden Arthouse-Krimis, wie ihn wohl nur der für seine Experimente berühmt-berüchtigte Hessische Rundfunk ins Rennen um Filmpreise und die Zuschauergunst schicken kann: Die 1274. Tatort-Folge, die beim Festival des deutschen Films ihre Vorpremiere feierte, ist eher griechische Tragödie und bizarres Familiendrama als Krimi, gleichzeitig ein Psychogramm und Howcatchem. Im gleichsam kunstvollen wie selbstironischen Arrangement wird darin ein auf dem Sperrmüll abgestelltes Gemälde getreu dem Motto „Ist das Kunst oder kann das weg?“ spontan zur Tatwaffe: Grünfels erschlägt im Affekt die hämische Politesse Marion Schweikhardt (Melanie Straub, Aus dem Dunkel), die ihn auf dem falschen Fuß erwischt.
Sehen tun wir die Tat allerdings nicht: Die Kamera fängt sie erst in ihrem blutigen Ergebnis ein, während der Psychologe im Kopf einen anderen Handlungsverlauf weiterspinnt. Nur einer von unzähligen Momenten, in denen unter Regie von Till Endemann (Eine Frage des Gewissens) eine feine Leerstelle bleibt oder Realität und Fiktion verwischen. Grünfels spricht in Gollum-Manier mit seinem Alter Ego und mit Ermordeten, phantasiert Schlüsselmomente weiter und blendet aus, was er nicht sehen möchte. Dass der psychologische Psychotherapeut um seine psychische Erkrankung weiß, macht die Sache doppelt reizvoll und zum aberwitzigen Vergnügen – etwa dann, wenn er seinem dominanten Alter Ego energisch Kontra gibt.
Die Drehbuchautoren Dirk Morgenstern (Wer Wind erntet, sät Sturm) und Michael Proehl (Wir kriegen euch alle), der auch den Tatort-Meilenstein Im Schmerz geboren für den HR schrieb, arrangieren ein unheimlich stimmungsvolles, vom HR-Sinfonieorchester überragend vertontes Wechselspiel aus ernüchternden Erkenntnissen, brutalen Gewalteruptionen und vergeblichem Wunschdenken. Die Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) spielen fast über die gesamte Spieldauer nur die zweite Geige und frönen Kunst und Kultur: Brix freut sich auf einen Liederabend, Janneke trifft Grünfels in einer mit Kunstnebel aufgepeppten Medieninstallation, die Caspar David Friedrichs berühmten „Wanderer über dem Nebelmeer“ zitiert und durch die eine furchterregende Horrorkreatur stiefelt.
Dass es einen zweiten Mord gibt, der über einen mit Brix‘ Freundin Fanny (Zazie de Paris) befreundeten Informanten ins Rotlichtmilieu und zum wenig zimperlichen Zuhälter Leonardo Muller (Ronald Kukulies, Ich hab im Traum geweinet) führt, spielt ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Spannender als der kompromisslos erzählte Milieuausflug gestaltet sich die Frage, wie weit der aufgewühlte Psychotherapeut, der Janneke seine Tat eigentlich gestehen wollte, wohl gehen wird: Von seiner Ehefrau Rosalie (Patrycia Ziolkowska, Rhythm and Love) betrogen, von seinem spielsüchtigen Bruder Hagen (Andreas Schröders, Du bleibst hier) angebettelt und von seinen Teenie-Kindern Eric (Niko Jungmann) und Senta (Maja Bons) ignoriert, ist Grünfels in seinem Wahn sogar erweiterter Suizid zuzutrauen.
Während wir von Beginn an um seine Täterschaft und die drohende Gefahr wissen, tappen Janneke und Brix eine gute Stunde lang im Nebel(meer) und ahnen nicht, dass sie sich auf einem Wettlauf gegen die Zeit befinden. An der steilen Spannungskurve ändert das wenig: Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n ist ein von Minute 1 an packender und vom überragenden Matthias Brandt in ungewohnter Antagonistenrolle fast allein getragener, wuchtiger Tatort, der im Schlussdrittel alle Register zieht. Zugleich zeigt der Krimi an dieser Figur eindrucksvoll, wieviel Charakterschärfung in 90 Minuten möglich ist. Grünfels‘ Begegnung mit dem massigen Masseur Vincenzo (Anton Noori, Pumpen) und die Hinterrücks-Massage seiner Gattin sind zudem zwei stark inszenierte, elektrisierende Spannungsmomente.
Das 19. Kapitel der 2015 mit Kälter als der Tod begonnenen Tatort-Ära von Janneke und Brix, in dem der Frankfurter Fußballer Timothy Chandler einen Gastauftritt als Reinigungskraft hat, ist damit nicht nur das letzte, sondern zugleich das beste. Der Krimireihe geht 2024 ein Duo verloren, deren Fälle zwar nicht zu beliebtesten, aber unberechenbarsten zählten: Grandiosen Krimidramen wie Die Geschichte vom bösen Friederich, Finsternis oder Unter Kriegern stehen schließlich gefloppte Experimente wie Fürchte dich oder maximal umstrittene Folgen wie Leben Tod Ekstase und Erbarmen. Zu spät gegenüber. Ihr letzter Einsatz, dessen wunderbar romantisches Ende die Filmemacher leider durch einen unnötigen Knalleffekt ruinieren, schrammt nur aufgrund dieses ärgerlichen Makels knapp an der Höchstwertung vorbei.
Bewertung: 9/10
Drehspiegel: So geht es im Frankfurter Tatort weiter
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Ausblick: Dieser Tatort läuft am nächsten Sonntag
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