Folge 1280
17. November 2024
Sender: SWR
Regie: Andreas Kleinert
Drehbuch: Norbert Baumgarten
So war der Tatort:
Schwäbisch.
Denn anders als die meisten Folgen in der bis dato sechzehnjährigen Tatort-Ära der Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) bringt Lass sie gehen auch reichlich schwäbisches Lokalkolorit mit – und stellt ungeübte Ohren mit seiner ungewohnten Dialektoffensive auf eine wirklich harte Bewährungsprobe.
Der Mordfall, den die Kriminalisten aus „Schduagord“ mit Unterstützung von Rechtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) untersuchen, führt sie hinaus auf die Schwäbische Alb: Am Neckar wurde die Leiche von Hanna Riedle (Mia Rainprechter) gefunden. Die Tischler-Azubine stammte aus dem ebenso malerischen wie fiktiven Örtchen Waldingen (gedreht wurde in Bichishausen), sie war für die Lehre in die Landeshauptstadt gezogen. Sehr zum Ärger ihrer engstirnigen Mutter Luise (Julika Jenkins, Die harte Kern): Die führt die Gastwirtschaft des verschlafenen Ortes mit ihrem Mann Hannes (Moritz Führmann, seit 2023 im Dortmunder Tatort als Staatsanwalt Matuschek zu sehen) und hatte darauf gehofft, ihre Tochter würde später mal den Betrieb übernehmen.
Auf der Alb scheint die Zeit ein Stück weit stehengeblieben: Man schert sich nicht um die Hektik der Großstadt, verachtet die Zugezogenen und trifft sich bei deftigen Fleischgerichten und Klosterbräu in der Gaststube. Und man ist kollektiv geschockt, wenn Pfarrer Schmiedle (Christoph Glaubacker, Letzter Ausflug Schauinsland) mit Grabesmiene die Nachricht von Hannas Tod überbringt: Jeder im Dorf hat sie gemocht, vor allem ihr Ex-Verlobter Martin Gmähle (Sebastian Fritz) und der schwer in sie verliebte Marek Gorsky (überragend: Timocin Ziegler, Flash), die beide im einzigen Industriebetrieb des Ortes ihre Brötchen verdienen. Die Handvoll Tatverdächtiger komplettiert Hannas Schwester Emma (Irene Böhm), die noch zur Schule geht und im Gasthof ihrer Eltern aushilft.
Fans der Krimireihe kennen solche Whodunit-Konstruktionen in dörflichen Mikrokosmen vor allem aus den Tatort-Folgen mit Charlotte Lindholm: So wie sonst die niedersächsische LKA-Ermittlerin quartiert sich diesmal Lannert im Gästezimmer der Wirtschaft ein und fühlt den trauernden Einheimischen auf den Zahn. Warum er für die Übernachtung nicht einfach wie Bootz ein paar Kilometer nach Stuttgart zurückfährt und dem Kollegen sogar seinen heiligen braunen Porsche anvertraut, leuchtet allerdings nicht ganz ein – das ebenso leckere wie gehaltvolle Essen bei den Riedles allein kann es eigentlich nicht sein.
Der Charakterzeichnung ist Lannerts Vor-Ort-Einsatz natürlich unheimlich dienlich. Weil die klassische Ermittlungsarbeit im 1280. Tatort über weite Strecken ausfällt und der Stuttgarter Kommissar live dabei ist, wenn sich vor Ort Streitereien, Beschuldigungen oder sonstige Eskapaden abspielen, erzählt sich die Geschichte aus der Feder von Drehbuchautor Norbert Baumgarten beinahe von selbst. Das tut ihr gut: Getragen von einem erstklassigen Cast und engagierten Dialogen stellt sich unter Regie von Andreas Kleinert (Wo ist Mike?) schon nach einer Stunde ein Gefühl ein, als würden wir die Tatverdächtigen seit Jahren gut kennen.
Und wir erleben eine Gruppendynamik, wie sie sich auch schon in der berühmten Dürrenmatt-Verfilmung „Es geschah am hellichten Tag“ Bahn brach: Ist erstmal ein Hauptverdächtiger gefunden, nimmt das Dorf die Justiz gern mal selbst in die Hand. Ein bisschen Klischee ist das alles schon, klar. Und brachte dem SWR im Nachklapp viel Kritik ein. Aber es lässt uns nicht kalt. Lannert und Bootz bekommen davon weniger mit als wir, sie sind Zaungäste einer Partie, die die Waldinger unter sich austragen. Die ist dadurch viel wuchtiger und mitreißender ist als die üblichen Befragungen nach dem Wo-waren-Sie-gestern-zur-Tatzeit-Prinzip.
Im Schlussdrittel spitzen die Filmschaffenden das Drama konsequent zu, sorgen aber dennoch für eine Enttäuschung. Denn so reizvoll sich die Mördersuche und das emotionale Innenleben von Familie Riedel und der Dorfgemeinschaft gestalten: Die Auflösung der Täterfrage ist eine der schwächsten in der Geschichte der Krimireihe. Nicht etwa, weil sie vorhersehbar oder unlogisch wäre, sondern weil sie seltsam beliebig und uninspiriert in den Plot gehämmert wird. Beim Miträtseln sind wir durch eine plötzliche Erkenntnis Dr. Vogts chancenlos. Auch das Stellen des Täters vor der architektonisch imposanten Kulisse der szenisch wie ein Fremdkörper wirkenden Stuttgarter Stadtbibliothek gleicht einer albernen Slapstick-Nummer.
Dennoch überwiegt unterm Strich klar das Positive: Pünktlich zum surreal angehauchten, etwas rätselhaften Finale findet der stimmungsvoll inszenierte, stellenweise humorvoll aufgelockerte Film tonal wieder in die Spur. Dass der Stuttgarter Tatort seinen enttäuschendsten Moment ausgerechnet in Stuttgart hat, ist am Ende bezeichnend für ihn: Das Herz dieses Dramas schlägt in der schwäbischen Provinz.
Bewertung: 7/10
Drehspiegel: So geht’s im Stuttgarter Tatort weiter
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