Folge: 1222 | 15. Januar 2023 | Sender: WDR | Regie: Richard Huber
Exkursiv.
Du bleibst hier, dessen Krimititel auf die letzten Worte der im hochklassigen Dortmunder Tatort
Liebe mich! spektakulär ums Leben gekommenen Martina Bönisch (Anna Schudt) anspielt, fühlt sich nämlich wie die Folge einer Drama-Serie oder eine ausführliche Exkursion an – und zwar in die Kindheit und Gefühlswelt des in tiefe Trauer gestürzten Hauptkommissars Peter Faber (Jörg Hartmann), der mit seinem grau-braunen Rauschebart und seiner wilden Lockenmatte kaum wiederzuerkennen ist.
Während der schockierende, im Vorfeld strikt geheim gehaltene Bönisch-Tod (
weitere Informationen) im Februar 2022 noch ein Millionenpublikum um den Schlaf brachte, wirkt der Nachfolger im direkten Vergleich schon fast wie eine Beruhigungspille. Denn so interessant sich der 1222. Tatort, zu dem der Dortmunder Stammautor Jürgen Werner (
Heile Welt) und Hauptdarsteller Jörg Hartmann gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, mit Blick auf die Figurenzeichnung im Ruhrpott auch gestaltet: Als packender Krimi funktioniert der spannungsarme Film weniger gut. Muss er aber auch nicht.
Denn die Filmemacher um Regisseur Richard Huber (
Inferno), der zum dritten Mal für Dortmund am Ruder sitzt, erzählen gleich drei Familiendramen auf einmal: das intensive Vater-Sohn-Drama um Peter Faber und seinen Vater Josef „Jupp“ Faber (Wolfgang Rüter,
Bildersturm). Das bereits bekannte Vater-Tochter-Drama um Jan Pawlak (Rick Okon) und seine genervte Tochter Mia (Jana Giesel). Und das bereits im Vorgänger kurz angerissene Mutter-Tochter-Drama um Rosa Herzog (Stefanie Reinsperger) und ihre Mutter Susanne Bütow (Rosa Enskat), die diesmal zwar nur auf der Tonspur vorkommt, aufgrund ihrer RAF-Verbindungen aber das LKA im Nacken hat und Herzog in die Bredouille bringt.
Gefühlsausbrüche sind vorprogrammiert. Und da sind ja noch die alles überstrahlenden, heftigen Nachwirkungen des Todes von Martina Bönisch, deren Fehlen schmerzt und an denen Faber schwer zu knapsen hat: Er ist krankgeschrieben, lebt in seinem silbergrauen Manta und schaltet sich erst in der zweiten Filmhälfte in die Ermittlungen ein. Seine Alleingänge sorgen im Präsidium für Stunk, wie wir ihn in Dortmund schon lange nicht mehr erlebt haben – da kann Herzog noch so liebevoll den Kaktus gießen, der in Fabers Büro ein noch einsameres Dasein fristet als früher.
HERZOG:
Es gab Zeiten, da waren wir mal ein Team, Faber!
FABER:
Es gab Zeiten, da lebte Martina noch!
HERZOG:
Ja! Und Sie sind nicht der Einzige, der daran zu knabbern hat! Verdammt nochmal!
Wer den Chef einer Immobilienfirma und einen Drogendealer im Westpark aus dem Verkehr gezogen hat, ist in diesem Tatort eher zweitrangig – und wird auch nicht allzu komplex verschlüsselt. Entsprechend durchschaubar gestaltet sich die Auflösung der Whodunit-Konstruktion, für die ohnehin nur drei Personen infrage kommen: Fabers dementer, aber meist lammfrommer Vater Jupp, dessen kauziger, im
Kreuzviertel sehr beliebter Friseur Martin Engel (Andreas Schröders,
Angriff auf Wache 08) und die alleinerziehende Natalja Richter (Valery Tscheplanowa,
Tiere der Großstadt), von der sich der einleitend verschwundene Unternehmer scheiden lassen wollte.
Und so konzentriert sich (fast) alles darauf, ein weiteres dunkles Kapitel aus Fabers Vergangenheit ans Tageslicht zu befördern: Während sich die früheren Dortmunder Tatort-Folgen, in denen Faber es mehrfach mit seinem Erzfeind Markus Graf (Florian Bartholomäi, letzter Auftritt in
Monster) zu tun bekam, auf das Ableben seiner Frau und Tochter konzentrierten, betreten wir diesmal sein Kinderzimmer und erfahren, warum Fabers depressive Mutter gestorben ist. Und, dass er im Alter von 12 Jahren ins Internat gesteckt wurde. Und interessiert uns das?
Natürlich interessiert uns das, denn Faber ist seit seinem Dienstantritt im Jahr 2012 (vgl.
Alter Ego) die vielleicht reizvollste Figur, die die Krimireihe zu bieten hat.
Du bleibst hier punktet deshalb als vielschichtiges Psychogramm, rührendes Demenzdrama und aufwühlende Charakterstudie mit grandiosen Darstellern, birgt als Krimi aber Schwächen. Allein die Tatsache, dass das Mordopfer zufällig der Vermieter von Fabers Vater ist, mutet extrem konstruiert an. Um die ausschweifende Vater-Sohn-Geschichte musste offenbar ein halbwegs glaubwürdiger Kriminalfall gestrickt werden, um das Ganze überhaupt im Tatort-Mantel erzählen zu können.
Nicht nur für die Fans des Ermittlertrios lohnt sich das Einschalten trotzdem, denn es gibt nicht nur sympathischen Ruhrpott-Dialekt aufs Ohr, sondern sogar ein überraschendes Wiedersehen mit Martina Bönisch, deren Darstellerin Anna Schudt im Abspann als Gast genannt wird: Sie erscheint Faber bei dessen Trauerarbeit in einer Kirche und spricht aus dem Off ein paar markige Zeilen. In einer weiteren tollen Szene treten Herzog und Pawlak humorvoll in ihre Fußstapfen: Sie stellen im Park den Abtransport einer Leiche nach und tauchen dabei natürlich nicht halb so elegant in ihre Rollen ein, wie Faber und Bönisch es früher so oft gemeinsam taten.
PAWLAK:
Warum parke ich denn überhaupt hier? Hatte ich von Anfang an vor, dich zu entsorgen, oder…? So’n Scheiß, echt.
HERZOG:
Zieh dir’n Parka an, Jan, dann weißt du’s.
Bewertung: 7/10
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