Jürgen Hartmann im Tatort-Interview

Am 19. November 2023 war Jürgen Hartmann wieder in seiner Rolle als Dr. Vogt im Stuttgarter Tatort zu sehen. In unserem Interview erzählt der Schauspieler, warum der Rechtsmediziner in Vergebung so im Mittelpunkt steht, welchen Einfluss er auf die Geschichte hatte und was die Tatort-Folgen aus seiner Heimatstadt schon seit Jahren so sehenswert macht.

Bild: SWR/Benoît Linder

Lieber Jürgen, der Stuttgarter Tatort Vergebung ist nicht irgendein Tatort: Er ist gewissermaßen dein Tatort. Worum geht es im Film?

Wie meistens im Tatort taucht zu Beginn eine Leiche auf – diesmal aus den schlammigen, braunen Fluten des Neckars. Als Dr. Vogt sie sieht, ist er merkwürdig berührt und irritiert. Wir merken gleich: Irgendwas ist mit ihm. Diese Irritation verfolgt der Film dann zurück in Vogts Jugend. Wir lernen eine pubertäre Truppe kennen, drei Jungs und ein Mädel. Vogt wird mit einem dunklen Geheimnis konfrontiert und wir erleben ihn von einer ganz neuen Seite. Er gerät ins Fadenkreuz der Ermittlungen.
Ist Vergebung trotzdem noch ein klassischer Krimi oder eher experimentell?

Experimentell nicht, aber der Film changiert ein wenig zwischen den Genres. „Liebeskrimi“ trifft es wahrscheinlich am besten.
Die Idee zur Geschichte kam von dir selbst. Wie bist du darauf gekommen?
Mich hat immer schon der Gedanke fasziniert, dass Dr. Vogt eines Tages vor einer Leiche steht, die ihn aus seiner Routine reißt. Im Tatort wird ja meist das „Normale“ erzählt, wenn Vogt zurückgezogen in seinem Keller eine Leiche seziert. Mich hat interessiert: Was passiert, wenn er zu der Leiche plötzlich eine persönliche Verbindung hat? Gibt es da Irritationen oder Hemmungen? Von dieser Idee aus habe ich die Geschichte zurückphantasiert. Das machen wir Schauspieler oft, wenn wir Rollen ausarbeiten. Wir gehen in die Tiefe und in die Breite und überlegen zum Beispiel, wie die Kindheit oder die Biografie der Figur ausgesehen haben könnte.
Wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert: Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) im Gespräch mit seiner Jugendfreundin Sandra (Ulrike C. Tscharre).
Bild: SWR/Benoît Linder


Wie ist aus dieser Idee dann das Drehbuch entstanden?
Ich habe die Idee der SWR-Redaktion und dem Produzenten gepitcht und gleich gemerkt, dass sie verfängt. Die Redaktion hat mir schon zwei Wochen später signalisiert, dass sie die Idee toll findet und umsetzen will. Wir haben dann gemeinsam überlegt, welche Ästhetik und Erzählweise gut dazu passen könnte, und sind auf Rudi Gaul und Katharina Adler gekommen. Die hatten schon das Drehbuch zum Tatort Videobeweis zusammen geschrieben. Rudi war von der Idee begeistert – und ab dem Zeitpunkt war ich raus.
Danach hattest du keinen Einfluss mehr auf die Geschichte?
Genau. Das war mir auch wichtig, weil sie ein eigener künstlerischer Prozess ist. Das fertige Drehbuch war in Teilen nah an meiner Idee, in Teilen aber auch anders.
Und wie zufrieden bist du mit dem Ergebnis?
Ich war schon beim ersten Lesen vom Buch begeistert und bin auch sehr, sehr glücklich mit dem Film. Er hat eine ganz tolle, achtsame Erzählweise. Der Tatort ist unheimlich atmosphärisch, sehr lebendig und phantasievoll.
Rechtsmediziner sind im Tatort oft etwas schrullige oder schräge Typen, Daniel Vogt hingegen ist ein recht unauffälliger Zeitgenosse. Lernen wir ihn in Vergebung näher kennen?
Auf jeden Fall. Vogt tritt diesmal anders in Erscheinung und ist viel präsenter. Es liegt ein Schlaglicht auf ihm, durch das sich die Geschichte entblättert. Bisher kannte man die Figur zwar, aber wusste im Prinzip nichts über sie. Das ist ein Stück weit die Trumpfkarte des Films: Weil er als Gerichtsmediziner bisher nicht im Mittelpunkt stand, ist er ganz anders belastbar. Ein Kommissar mit einem dunklen Geheimnis aus der Vergangenheit wäre wohl schwieriger. Die Figur erhält durch den Fall mehr Tiefe und das Publikum kann sich zukünftig besser an ihn erinnern.
Lässt die Stuttgarter Kommissare im Dunkeln tappen: Dr. Vogt (Jürgen Hartmann, Mitte).
Bild: SWR/Benoît Linder


Apropos „erinnern“: Ist dir in euren bisherigen 15 Tatort-Jahren mal eine Leiche besonders im Gedächtnis geblieben, die Vogt untersuchen musste?
Beim Tatort Die Unsichtbare [aus dem Jahr 2010, Anm. d. Red.] hatten wir mal einen Dreh im Februar am Bärensee. Dort sollte eine Wasserleiche gefunden werden. Der See war aber zugefroren und musste extra für den Dreh am Rand aufgehackt werden. Die Schauspielerin, die die Leiche gespielt hat, wurde ins Wasser geschoben, und das war wirklich irrsinnig kalt. Der Dreh hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert und sie hat mir SO leidgetan, als sie da bibbernd im Wasser lag. Sie wurde immer blauer und blauer! (lacht) Der Kameramann war dann auch noch gnadenlos und rief: Jetzt mal bitte nicht so zittern, ich mache eine Nahaufnahme… (lacht)
Die Stuttgarter Tatort-Kommissare sind im Vergleich zu anderen Teams ja relativ unaufgeregte Figuren, die keine privaten Schauplätze beackern müssen oder anderweitig aus dem Rahmen fallen. Ist das ein Vorteil?
Der Fokus auf den Kriminalfall ist aus meiner Sicht ein absolutes Qualitätsmerkmal. Wir laufen nie Gefahr, in Nebenstränge abzudriften oder gar Eitelkeiten der Darsteller nachzugehen. Unser Tatort bietet echte, harte Ermittlungsarbeit. Der Hauptdarsteller ist immer der Fall.
Gab es einen Stuttgarter Tatort, der dir unabhängig von deiner eigenen Figur besonders gut gefallen hat?
Der Inder mit dem „Stuttgart 21“-Thema von Niki Stein. Niki mag ich als Regisseur und Drehbuchautor ohnehin sehr gern, der macht immer gute Sachen..
Hauptkommissar Sebastian Bootz (Felix Klare), Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und Rechtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) im Tatort „Der Inder“ von 2015.
Bild: SWR/Johannes Krieg

Als gebürtiger Stuttgarter ist der Dreh immer ein Heimspiel für dich. Würdest du dir noch mehr von der Stadt im Tatort wünschen?

Ich liebe es, für die Dreharbeiten hierher zu kommen. Das weckt immer ein starkes Heimatgefühl in mir. Nicht mehr so auf Lokalkolorit zu setzen, wie es früher im „Bienzle“-Tatort der Fall war, finde ich gut. Das macht es großstädtischer und moderner. Dass die Stadt und der Dialekt, gerade auch durch meine eigene Figur, dabei sind, ist aber auch wichtig, solange es nicht zu folkloristisch wird. Andererseits finde ich urschwäbische Formate total klasse. „Die Kirche bleibt im Dorf“ zum Beispiel hab ich gefeiert, den fand ich großartig. Ein schwäbischer Shakespeare in der Moderne war das für mich.

Gibt es einen speziellen Ort oder ein spezielles Stuttgarter Thema, den oder das du gerne mal im Tatort zeigen würdest?

Wir haben ja schon viele Orte gezeigt, selbst die Müllverbrennungsanlage. Was noch fehlt, ist der „Monte Scherbelino“. Das wäre doch ein schöner Fundort für eine Leiche. Mit Aussicht sozusagen! (lacht) Ein Thema, das gut zu Stuttgart passt, ist natürlich das Auto, den Tatort Stau gab es ja schon. Das Aussterben des Verbrenners in der Heimat von Porsche und Mercedes – das bietet auch reichlich Stoff.

Euer erster Tatort datiert von 2008. Ist die Lust auf die Rolle bei dir immer noch so groß wie damals?

Das ist eine gute Frage. Es gab ja diese Folgen, wo ich nur in einer Funktion zu sehen war – gerade das haben wir bei Vergebung mal durchbrochen. Generell reizt es mich mehr, wenn es richtig was zu spielen gibt, oder zu radeln, wie zuletzt in Der Mörder in mir. (lacht) Nur der Gerichtsmediziner zu sein, der das Protokoll abliefert, das fällt mir zunehmend schwerer. Wenn es in dem Rahmen bleibt, ist es irgendwann auserzählt. Wir haben ja ein realistisches Setting, können also nicht die Münster-Karte ziehen und uns irgendwas einfallen lassen, um das nochmal aufzupeppen.
Die Hauptkommissare Sebastian Bootz (Felix Klare, l.) und Thorsten Lannert (Richy Müller, r.) mit Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) in ihrem ersten Tatort „Hart an der Grenze“ von 2008.
Bild: SWR/Kluge
Was müsste denn passieren, dass du mit dem Tatort aufhörst?

Aufhören würde ich, wenn mich die Rolle überhaupt nicht mehr herausfordert und ich keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr sehe. Ich bin ja in erster Linie Schauspieler, auch wenn mich viele Zuschauer nur als Dr. Vogt kennen. Somit suche ich natürlich nach Möglichkeiten, mich auszudrücken und zu zeigen, was in mir steckt – auch in anderen Rollen. Das ist die Hauptsache.

Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Lars-Christian Daniels
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