Folge: 1215 | 6. November 2022 | Sender: SWR | Regie: Franziska Schlotterer
Voreingenommen.
Und zwar gegenüber einer Frau, die über weite Strecken dieser bedrückenden Tatort-Folge unter Verdacht steht, ihren Gatten Gerd (Daniel Lommatzsch,
Der illegale Tod) und ihren Sohn Noah (Aureus Anker) getötet zu haben: Im Haus der Ehefrau und Mutter Sandra Vogt (Lisa Hagmeister) findet deren Schwiegermutter Edeltraud (Ruth Wohlschlegel,
Bienzle und der Mord im Park) eine große Blutlache im Ehebett. Vogt hat für die Tatnacht kein Alibi, weil sie sich mit einem unbekannten Liebhaber vergnügen wollte und den Hauptkommissaren Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) seinen Namen nicht preisgibt.
Es ist kaum ein Zufall, dass die Wahl für die tragische und vielschichtige Episodenhauptrolle auf Lisa Hagmeister (
Wendehammer) gefallen ist: Die Schauspielerin mimte bereits 2008 im Frankfurter Tatort
Der frühe Abschied eine potenzielle Kindsmörderin. Vor allem aber brillierte sie einige Jahre vor dem Drehstart zum neunten Schwarzwald-Tatort in Nora Fingscheidts überragendem Sozialdrama
„Systemsprenger“ als überforderte Rabenmutter, die man als Zuschauer häufig packen, durchschütteln und irgendwie zur Besinnung bringen möchte.
Hier liegt der Fall ähnlich, denn auch in Die Blicke der Anderen schürt Hagmeisters Figur zunächst Antipathie: Warum redet sie nicht? Was verheimlicht sie uns? Und warum behindert sie die Ermittlungen, wenn sie so unschuldig ist, wie sie behauptet? Sandra Vogt bleibt uns fremd. Man macht es uns schwer, sie zu mögen, und wir machen es uns schwer, noch andere Verdächtige und Tatmotive in diesem Krimi zuzulassen. Sandra isch halt Sandra. Sandra muss es gewesen sein, denn Sandra verrät im Verhör nur das, was man ihr nachweisen kann. Und Sandra geht lieber feiern und vögeln, statt ihre zerbröckelnde Ehe zu retten.
VOGT:
Sind Sie verheiratet?
BERG:
Nein.
VOGT:
Dann wissen Sie vielleicht auch nicht, dass man manchmal einfach nur froh ist.
BERG:
Worüber froh?
VOGT:
Über alles Andere.
Hagmeisters überragender Auftritt in der Rolle der unbeliebten Zugezogenen, die früh schwanger wurde und im fiktiven Örtchen Grainach einen schweren Stand hat, ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Tatort-Folge. Dabei werden die fiesen Dorfmechanismen, die substanzlose Voreingenommenheit und das ewige Getratsche und Geglotze ihrer Mitmenschen unter Regie von Franziska Schlotterer (
Was wir erben) genüsslich filetiert. Solche Milieus kennen wir in der Krimireihe vor allem aus älteren Tatort-Folgen mit Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), in denen Dorfbewohner oft als rückständige Hinterwäldler gezeichnet werden (vgl.
Hexenjagd). Auch der Kölner Tatort
Nachbarn zeigt eine ähnliche Vorort-Hölle.
Drehbuchautor Bernd Lange, der zuletzt die Bücher zum starken Tatort-Zweiteiler
In der Familie (1) und
In der Familie (2) schrieb, findet jedoch ein gesünderes und glaubwürdiges Maß. Allein die ebenso kurzsichtige wie schwerhörige Nachbarin Anna Gentner (Margot Gödrös,
Verfolgt) mutet in ihrem Argwohn etwas überzeichnet an. Und Langes Geschichte hat weitere Stärken: Die Auflösung der anfangs noch so offensichtlich erscheinenden, aber knifflig arrangierten Whodunit-Konstruktion gibt selbst Krimi-Experten eine harte Nuss zu knacken. Eine Täterschaft von Sandra Vogt scheint zu einfach, doch ausgeschlossen ist sie nicht.
Die Blicke der Anderen ist gerade mit Blick auf die wenige Wochen zuvor ausgestrahlten Experimente
Das Tor zur Hölle und
Leben Tod Ekstase ein angenehm bodenständiger Tatort, der die Täterfrage bis in die Schlussminuten offenhält und keine störenden Nebenschauplätze eröffnet. Toblers und Bergs Privatleben, das im vielkritisierten
Ich hab im Traum geweinet bekanntlich unter dieselbe Bettdecke führte, bleibt diesmal außen vor und die Neckereien zwischen den beiden fügen sich geräuschlos ein. Die Bühne gehört dem gut durchdachten und routiniert inszenierten Kriminalfall, der im Herbst 2022 als Teil der
ARD-Themenwoche „Wir gesucht! Was hält uns zusammen?“ auf Sendung geht.
Frei von erzählerischen Schwächen ist die 1215. Tatort-Folge, in der wir gegenüber den Ermittelnden hier und da einen kleinen Wissensvorsprung genießen, allerdings nicht: Wie öfters in der Krimireihe (vgl.
Das perfekte Verbrechen oder
Falscher Hase) wird die Auflösung künstlich zurückgehalten, weil die Kripo manche Fotos schneller und manche Fotos langsamer sichtet. Das wirkt wieder sehr konstruiert. Zudem leidet
Die Blicke der Anderen am eher behäbigen Erzähltempo, an das wir uns im Schwarzwald fast schon gewöhnt haben. Mit Blick auf die beklemmende Atmosphäre, die grandiose Hauptdarstellerin und das pfiffige Finale ist das diesmal aber zu verschmerzen.
Bewertung: 7/10
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