Folge: 1256 | 7. Januar 2024 | Sender: SWR | Regie: Miguel Alexandre
Womöglich letztmalig dialektal.
Denn in
Avatar feiern zwei Nebenfiguren ihren Abschied, die im Tatort aus Ludwigshafen seit Ende der 90er Jahre so fest zum Inventar zählten wie die Lederjacken der Hauptkommissarin, die italienischen Autos ihres Kollegen oder die Kinderfotos auf dem Schreibtisch seiner Nachfolgerin: Kriminaltechniker Peter Becker (Peter Espeloer) und Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt) brachten den „Pälzer“ Dialekt in die Krimis aus der Kurpfalz und werden nach über 20 Jahren vom SWR in TV-Rente geschickt. Besonders Espeloer schmeckte diese Entscheidung nicht (
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Während Becker und Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) als dienstälteste Ermittlerin der Krimireihe den Sprung in die Moderne irgendwie geschafft haben und ihre jüngere Kollegin Johanna Stern (Lisa Bitter) von Beginn an als dynamischer und technikaffiner Kontrapunkt angelegt war (vgl. ihr Debüt in
Blackout oder
Roomservice), glich Keller bis zuletzt einem Relikt aus früheren Tatort-Zeiten. Das hatte bei aller Befremdlichkeit auch etwas Nostalgisches, das zukünftig fehlt.
Die Filmemacher um Regisseur Miguel Alexandre und Drehbuchautor Harald Göckeritz, die bereits beim Ludwigshafen-Tatort
Die kleine Zeugin und beim Leipziger Tatort
Die Wahrheit stirbt zuerst zusammenarbeiteten, machen das Ausscheiden der beiden aber zu keinem großen Thema. Ein, zwei Wortwechsel am Rande der Ermittlungen und eine Abschiedssequenz im Präsidium – das war’s.
Viel mehr lässt der komplexe Kriminalfall auch kaum zu: Kurz nacheinander werden zwei ermordete Männer gefunden, die sich über eine Dating-Plattform mit ihrer Mörderin verabredet hatten. Um wen es sich bei ihr handelt, ist nur in den ersten 20 Minuten ein Geheimnis: Die Programmiererin Julia da Borg (Bernadette Heerwagen,
Tödliche Häppchen) beantwortet Chatanfragen per Bot und kommuniziert mit einem
Deepfake–
Avatar ihrer verstorbenen Ziehtochter Sina (Ziva Marie Faske). Um ihre Beweggründe zu ermitteln und sie zu überführen, begeben sich Odenthal und Stern in eine Welt, in der sich der LU-Tatort seit Jahrzehnten schwer tut: in die Welt junger Menschen.
Wie etwa in
Tod im Häcksler,
Der Wald steht schwarz und schweiget oder
Du gehörst mir gelingt es den Filmemacher auch diesmal nur sehr bedingt, den Jugendlichen authentische Textzeilen (
„Wow, der edle Ritter!“) in den Mund zu legen und sie glaubwürdig einzukleiden. Serien wie
Para zeigen, dass das so viel besser geht. Auf dem Pausenhof wird pausenlos Basketball auf einen Korb gespielt, weil das wohl jugendlich aussehen soll. Und die Schülerin Marie (Leni Deschner), die mit dem Opfer befreundet war und den gesamten Film über dieselbe Mütze und denselben Schal trägt, gibt auffallend schwülstige, dafür aber grammatikalisch vorbildliche Auskünfte zum Besten.
ODENTHAL:
Weißt du, was Sina am Fluss wollte? Wo sie verunglückt ist?
MARIE:
Das war ihr Lieblingsort. Wegen der Lichter.
ODENTHAL:
Die vom Chemiewerk.
MARIE:
In der Nacht ist das wie ein Palast.
Die oft seltsam hölzern und aufgesagt klingenden Dialoge (man könnte auch den kompletten Odenthal-Monolog am Telefon bei Minute 40 zitieren) sind doppelt ärgerlich. Denn aus diesem Tatort hätte mit einer weniger steifen Inszenierung, einem passenderen Soundtrack und einem zurückhaltenderen Arrangement (vgl. aufdringliche Einblendungen wie „VIERTER TAG“) nicht nur ein solider Thriller, sondern auch ein herausragend guter Themenkrimi werden können. Mit dem gefährlichen
Cybergrooming wagt sich Ludwigshafen schließlich an ein modernes und unbedingt erzählwürdiges Thema. Es hätte auch gut zum Kölner Tatort gepasst, in dessen Revier Lena Odenthal sogar bei einer kurzen (und wenig ergiebigen) Dienstfahrt wildert.
Und da ist die grandiose Bernadette Heerwagen, die als Episodenhauptdarstellerin eine starke Leistung in die Waagschale wirft: Wenngleich man ihrer Julia da Borg Klischees andichtet und nicht jeder Drehbuchschlenker glaubwürdig ist, bleibt ihre tolle Performance als Racheengel in Erinnerung. Ihr Ex-Freund Richard Otting (Renato Schuch,
Auge um Auge) hingegen dient vor allem dazu, ihr Profil hinter dem Rücken der Kommissarinnen zu schärfen. Der Architekt wird mit dem Tod seiner Tochter nicht fertig und formuliert im Kinderzimmer dann natürlich auch das, was die Kamera zwei Sekunden zuvor schon erzählt hat (
„Ich schaffe es einfach nicht, ihre Sachen wegzupacken.“).
Dick aufgetragene Momente wie diese sind typisch für den 1256. Tatort und für den Odenthal-Tatort im Allgemeinen, und so ist
Avatar am Ende eher eine vertane Chance als ein großer Wurf. Auch die für den kitschigen Zeitlupen-Showdown so wichtigen Nebenfiguren Pit (Felix von Bredow), Manon (Sabine Timoteo,
Risiken mit Nebenwirkungen) und „Tom“ (Caspar Hoffmann,
Nemesis) dürfen uns zwar gehörig aufs Glatteis führen, werden charakterlich aber nur oberflächlich beleuchtet. Viele Fragen bleiben offen. Auch die, warum Edith Keller in der letzten Szene einen Gummihandschuh trägt und ihr – ebenso wie Peter Becker – zum Abschied keine Umarmung vergönnt ist? Man könnte fast meinen, sie wären beim Dreh dieser Einstellung gar nicht zur selben Zeit am selben Ort gewesen wie die winkenden Kripo-Kollegen.
Bewertung: 5/10
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