Folge 1315
23. November 2025
Sender: SWR
Regie: Milena Aboyan
Drehbuch: Katrin Bühlig
So war der Tatort:
Einsam.
Überlebe wenigstens bis morgen ist nämlich nicht nur nach einem bekannten Gundermann-Song, sondern auch nach einem (fiktiven) Einsamkeitsforum benannt, um das sich in diesem Tatort vieles dreht: Suizidgefährdete können sich dort online über ihre Nöte austauschen und werden dabei offenbar schamlos ausgespäht. Liegt hier der Schlüssel zum Tod der jungen Nelly Schlüter (Bayan Layla), die in diesem Whodunit nach einem rechtzeitig gelöschten, einleitenden Hausbrand stranguliert in ihrem Wohnzimmer aufgefunden wird?
Drehbuchautorin Katrin Bühlig sensibilisierte uns bereits im grandiosen Frankfurter Niemand-hat-hingeschaut-Tatort Unter uns, im Berliner Corona-Tatort Die dritte Haut und im Kieler Tatort Borowski und das hungrige Herz fürs Hinsehen, wenn es anderen nicht gut geht, und rückt die Welt der Isolierten nun erneut in den Blickpunkt: Die stark verweste Leiche von Nelly Schlüter lag stolze fünf Monate unbemerkt in ihrer Wohnung. Weder ihre sporadisch Kontakt haltenden Eltern Yasemin (Idil Üner) und Henning Schlüter (Robert Kuchenbuch), noch ihr desinteressierter Klischee-Vermieter (Robert Besta, Goldbach) oder ihre beste Freundin Fine (Trixi Strobel) und deren Mann Niclas Slowinski (Louis Nitsche), die sich vor ihrer Hochzeit mit Nelly überworfen hatten, hatten sie vermisst.
Ehe die Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) auf die Suche ihres Mörder gehen können, sind sie diesmal besonders auf die treuen Dienste ihres Rechtsmediziners angewiesen: Der Todeszeitpunkt lässt sich anfangs nicht einmal auf eine bestimmte Woche eingrenzen, was das Überprüfen von Alibis und anderen Rahmenbedingungen des Todes enorm erschwert. Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) prüft daher den Wetterbericht und setzt sich intensiv mit Getier auseinander, das in verwesenden Leichen ein gefundenes Fressen findet: Sein von Lannert durchaus tapfer ertragener Monolog über hungrige Käferlarven und Latrinenfliegen ist eindeutig der witzigste Moment eines Krimidramas, das ansonsten sehr beklemmende Töne anstimmt.
Während Vogt, der im tollen Tatort Vergebung einmalig in den Vordergrund rückte, seit vielen Jahren in Stuttgart ermittelt, setzt der SWR Lannert und Bootz diesmal eine neue Chefin vor die Nase: Die ähnlich stark schwäbelnde Elvira Möbius (Daniela Holtz, Das Gespenst) kann Lannert ebenso wenig ausstehen wie er sie und liefert sich eine Dauerfehde mit dem Porschefahrer, die glücklicherweise nicht auf die Spitze getrieben wird. Denn so richtig zünden tut dieser bemühte Running Gag nicht – und so dürfte das Bedauern, dass Möbius‘ Auftritt eine einmalige Sache bleibt, sowohl bei den Kommissaren als auch beim TV-Publikum eher überschaubar ausfallen.
Besser deftig beleidigt worden, als überhaupt kein zwischenmenschlicher Kontakt, möchte man hier übersetzen – das unterkühlte, anstrengende Auftreten der Vorgesetzen soll das Kernthema der 1315. Tatort-Folge wohl noch einmal dick unterstreichen. Nötig ist das nicht, denn die Rückblenden in das Leben der Verstorbenen illustrieren auch so das Bild einer bildhübschen, aber einsamen Frau, die verzweifelt Anschluss sucht – bei der schnell genervten Nachbarin, bei ihrem weitergezogenen Ex-Freund Felix Vietze (Malik Blumenthal, Was bleibt) und sogar in der eigenen Familie. Die übersieht die Verzweiflung auch deshalb, weil Nellys Schwester Romy (Dalya Altan) zum zweiten Mal Nachwuchs bekommen hat und damit das Hauptinteresse der Verwandtschaft auf sich zieht.
Die Parallelmontage der beiden Handlungsebenen ziehen die Filmschaffenden um Regisseurin Milena Aboyan, die vor ihrem Tatort-Debüt bereits bei ihrem vielfach prämierten Debütlangfilm Elaha mit der famos aufspielenden Hauptdarstellerin Bayan Layla zusammenarbeitete, bis in die Schlussminuten durch, die Täterfrage halten sie dabei erstaunlich lange offen. Wir haben zwar eine Ahnung von dem, was in Nelly Schlüters Wohnung passierte, ehe sich die Türen für fünf Monate schlossen, und doch ist die Auflösung originell arrangiert. Weil der Cast mit vielen unverbrauchten Gesichtern gespickt ist, drängt sich auch beim Blick auf die Besetzung niemand unmittelbar als Täter auf. Das Tempo bei der Recherche von IP-Adressen und dem Zuordnen zu Klarnamen hielte einem Realitätsabgleich allerdings kaum stand: Das dauert normalerweise Wochen, wenn nicht Monate oder Jahre.
Ein packender Krimi ist Überlebe wenigstens bis morgen auch nicht wirklich, überzeugt dadurch aber mit sensiblem Blick für traurige Gefühlswelten: So wie schon im ähnlich konstruierten Vor-Vorgänger Lass sie gehen, der dem SWR nach der TV-Premiere massive Kritik der hinterwäldlerisch skizzierten Landbevölkerung einbrachte, liegt der Fokus auf dem Opfer, das im Film so viel erzählerischen Raum erhält wie nur wenige Tatort-Leichen. Das bringt viel Tiefgang, während der seltsam aufgesetzte Gastauftritt von Showmaster Pierre M. Krause verzichtbar gewesen wäre: Die glamourösen Traumsequenzen, in denen das Opfer in die Rolle einer populären Sängerin schlüpft und sich in einer Fernsehsendung wähnt, wirken in diesem Film auch optisch wie Fremdkörper.
Bewertung: 7/10
Porträt: SIE spielt im Tatort die junge Nelly Schlüter
Drehspiegel: So geht es im Stuttgarter Tatort weiter
Ausblick: Dieser Tatort läuft am nächsten Sonntag


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